Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
immer den Blick in Rowlfs Richtung gewandt hatte und mit ihm sprach, aber die Flaschen standen auch nicht weiter hinten auf dem Regal – was daran liegen mochte, dass das Regal nicht mehr da war.
Der Schrank übrigens auch nicht.
»Ich habs H.P. aba versprochn«, antwortete Rowlf. »Un was ich einem versprechn tu, das tu ich auch haltn tun.«
Ich antwortete nicht darauf. Nicht nur, weil es vollkommen sinnlos war, Rowlf von irgendetwas überzeugen zu wollen, wovon er sich nicht überzeugen lassen wollte – ich hatte voll und ganz damit zu tun, mich mit ausgestreckten Armen an der gegenüberliegenden Wand dessen abzustützen, was vor ein paar Stunden noch ein ganz normaler, ordentlicher Schrank gewesen war, ein Einbauschrank mit holzvertäfelten Wänden, sauberen Regalbrettern – und vor allem einem massiven Boden.
Jetzt waren die Regalbretter verschwunden, die Wände bestanden aus nackten Ziegelsteinen, auf denen sich hier und da schon Moder und grünlicher Schimmel festgesetzt hatte, und der Boden war völlig verschwunden. Wo er eigentlich sein sollte, gähnte nichts als ein schwarzer, bodenloser Abgrund, in den ich zweifellos hineingestürzt wäre, wäre der Schrank auch nur um einige Zoll tiefer gewesen; oder meine Arme um einige wenige Zoll kürzer … Ich stemmte mich mit aller Kraft und durchgedrückten Armen gegen die Rückwand, während ich in einer grotesk nach vorne gebeugten Haltung dastand und darum betete, nicht abzurutschen.
»Außadem kamma nie wissn«, fuhr Rowlf fort. »Viele Sachn, die harmlos aussehn tun, sins nacher nich.«
Ich verbesserte mich in Gedanken – der Boden war noch da, doch er lag jetzt gute dreißig oder vierzig Yards unter mir, vielleicht auch etwas mehr oder weniger. Aber es war nicht mehr der Boden eines Schrankes, sondern ein heruntergekommener, übel riechender Schacht, an dessen Grund eine ölig schimmernde Flüssigkeit schwappte.
»Rowlf!«, krächzte ich.
»Ich könnte dir Sachn erzähln, diede niemals nich glaum tun tätest«, fuhr Rowlf fort.
Und ob ich ihm glauben würde! Meine Arme begannen allmählich zu schmerzen. Ich stand in einer schon fast grotesk nach vorne geneigten Haltung da, und da ich auch mit den Füßen keinen richtigen Halt fand, musste ich mein gesamtes Körpergewicht nur mit den Finger- und Zehenspitzen ausbalancieren. Noch war es erträglich, aber ich war nicht sicher, wie lange ich diese unnatürliche Haltung noch durchstehen konnte.
»Rowlf!«, rief ich erneut.
»Andara-House liegt sowieso fast aufm Wech«, fuhr Rowlf fort. »Is also nichma’n Umweg, wennich dich begleiten tu.«
Meine Hände begannen langsam, aber unbarmherzig abzurutschen. Ich drückte mit aller Gewalt die Arme durch, aber Schimmel und Fäulnis bildeten einen schmierigen, glatten Belag auf den Wänden, sodass ich immer mehr Kraft aufwenden musste, um meine Position zu halten, und mir damit gewissermaßen selbst den Boden unter den Füßen wegzog, denn meine Schuhe fanden auf dem tadellos auf Hochglanz gebohnerten Parkettfußboden einfach keinen richtigen Halt. Und wenn ich auch nur eine Sekunde unaufmerksam war, wäre ich verloren. Der senkrechte Schacht, in den sich der Schrank verwandelt hatte, reichte bis in die tiefsten Kellergeschosse des Gebäudes herab; vielleicht sogar tiefer.
»Rowlf!«, keuchte ich.
»Aba irgendwie bin ich froh, wenn Andara-House wieder bewohnbar is.« Rowlf plapperte fröhlich weiter. »Vielleicht bisse ja wiedar bisschn besser drauf, wennde aus diesem piekfeinen überkandidelten Schuppen rauskommn tust. Is ja nich zum Aushalten hier.«
Ich hätte in diesem Moment meinen rechten Arm dafür gegeben, auch nur aus diesem Schrank herauszukommen. Meine Hände rutschten unbarmherzig ab. Ich sammelte Kraft, um mich abzustoßen und mich auf diese Weise selbst aus dem Schrank herauszukatapultieren, wagte es aber dann schließlich doch nicht. Es war zu spät. Ich hatte den entscheidenden Moment verpasst. Mittlerweile lehnte ich nicht mehr schräg, sondern beinahe waagerecht im Schrank. Meine Arme schmerzten immer unerträglicher, und es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis mich endgültig die Kräfte verließen.
»Rowlf!!!«, krächzte ich. Um ihn anzuschreien, wonach mir durchaus zumute war, fehlte mir sowohl die Kraft als auch der Atem.
»Innern Laden wie dem hier muss man ja’n Moralischen kriegn«, erklärte Rowlf überzeugt. »Man traut sich ja kaum, sich zu bewegn.« Ich hörte, wie der Sessel knirschte und ächzte, als er sich
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