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Straße.
215
Während sich Heydrichs Mercedes den gewundenen Weg des Schicksals entlangschlängelt und die drei Fallschirmspringer angespannt in der Todeskurve auf der Lauer liegen, alle Sinne in Alarmbereitschaft, lese ich erneut die Geschichte von Jan Žižka, wie sie George Sand in ihrem wenig bekannten Werk Jean Ž ižka beschreibt. Und schon wieder lasse ich mich ablenken. Vor mir sehe ich den grausamen General oben auf seinem Berg stehen, blind, mit kahlgeschorenem Schädel, den Schnurrbart nach gallischer Manier geflochten, sodass die Spitzen lianenartig Richtung Oberkörper fallen. Am Fuße seiner improvisierten Festung steht die kaiserliche Armee von Sigismund zum Angriff bereit. Vor meinem geistigen Auge spielen sich Kämpfe, Massaker, Kriegseroberungen und Besatzungen ab. Žižka war der Kammerherr des Königs in Prag. Es heißt, er habe sich aus Hass auf die Priester in den Krieg gegen die katholische Kirche gestürzt, weil ein Priester seine Schwester vergewaltigt haben soll. Es ist das Zeitalter der ersten berüchtigten Prager Fensterstürze. Noch weiß man nicht, dass von dem Unruheherd Böhmen schreckliche Religionskriege ausgehen und über hundert Jahre andauern werden. Ich erfahre, dass das Wort «Pistole» vom tschechischen p획ala abstammt. Ich erfahre, dass Žižka quasi der Erfinder der Panzergefechte ist, weil er in seinen Schlachten Bataillone schwerbewaffneter Wagen einsetzte. Es heißt, Žižka habe den Vergewaltiger seiner Schwester gefunden und hart bestraft. Es heißt weiterhin, Žižka sei einer der größten Kriegsherren aller Zeiten gewesen, weil er keine einzige Niederlage einstecken musste. Ich verzettele mich. Ich lese lauter Dinge, die mich von der Kurve ablenken. Und dann entdecke ich noch diesen Satz von George Sand: «Ihr bedauernswerten arbeitsamen und kranken Leute führt einen ständigen Kampf mit denen, die euch ein ums andere Mal sagen: ‹Arbeitet viel, um sehr schlecht zu leben.›» Das war mehr als die Einladung zu einem kleinen Exkurs, eine echte Provokation! Doch nun richte ich meine ganze Konzentration auf mein eigentliches Ziel und werde mich nicht mehr ablenken lassen. Ein schwarzer Mercedes gleitet wie eine Schlange über die Straße, ich kann ihn schon sehen.
216
Heydrich ist zu spät. Es ist bereits nach zehn Uhr. Die Hauptverkehrszeit ist vorbei, und Gabčiks und Kubiš’ Anwesenheit auf dem Gehweg der Klein-Holeschowitz-Straße wird zunehmend auffällig. 1942 machen sich – egal, wo in Europa – zwei Männer, die zu lange an derselben Stelle herumstehen, schnell verdächtig.
Ich bin sicher, sie wissen, dass ihre Mission zum Scheitern verurteilt ist. Jede weitere Minute, die vorbeizieht, erhöht das Risiko, von einer Patrouille entdeckt und verhaftet zu werden. Trotzdem warten sie weiterhin ab. Der Mercedes hätte schon vor über einer Stunde vorbeikommen müssen. Nach den Uhrzeiten, die der Tischler festgehalten hat, ist Heydrich noch nie nach zehn Uhr an der Burg angekommen. Alles lässt also darauf schließen, dass er nicht mehr kommen wird. Er könnte eine andere Route genommen haben oder direkt zum Flughafen gefahren und fortgeflogen sein – für immer.
Kubiš hat sich im Innern der Kurve postiert und lehnt an einem Laternenpfahl. Auf der anderen Seite der Kreuzung tut Gabčik so, als warte er auf eine Bahn. Ein gutes Dutzend Bahnen muss bereits an ihm vorbeigefahren sein, bestimmt hat er aufgehört, sie zu zählen. Nach und nach ebbt der Strom tschechischer Arbeiter ab. Die beiden Männer werden fatalerweise bald ganz allein dastehen. Nach und nach verklingen die Geräusche der Stadt, und die Ruhe, die sich über die Kurve legt, kündet wie ein höhnisches Echo vom bevorstehenden Misserfolg ihrer Mission. Heydrich ist niemals zu spät. Er wird nicht mehr kommen.
Doch natürlich hätte ich nicht dieses ganze Buch geschrieben, nur damit Heydrich dann nicht auftaucht.
Um zehn Uhr dreißig werden die beiden Männer auf einmal vom Blitz getroffen oder, korrekt gesagt: vom Sonnenlicht, das Valčík oben auf dem Hügel mit Hilfe seines kleinen Taschenspiegels reflektieren lässt. Das ist das Signal. Also doch. Er wird kommen. In wenigen Sekunden wird er da sein. Gabčik rennt über die Straße und bezieht am Ausgang der Kurve Posten, von der er an dieser Stelle bis zum letzten Moment verdeckt wird. Im Gegensatz zu Kubiš, der weiter vorne steht (es sei denn, er hat sich hinter Gabčik positioniert, wie in einigen Berichten behauptet wird, doch
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