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unterkommen – jede Menge Namen, die man verraten kann. Jede Menge Adressen, die man preisgeben kann.
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«Ich liebe Kundera, trotzdem gefällt mir sein Roman, der in Paris spielt, weniger. Weil er dort nicht so recht in seinem Element ist. Als trüge er eine sehr schöne Jacke, die ihm entweder eine halbe Größe zu groß oder zu klein ist (lacht). Mir erscheint es glaubwürdiger, wenn Milos und Pavel durch Prag spazieren.»
Das waren Marjane Satrapis Worte in einem Interview, das sie Inrocks anlässlich des Erscheinens des wunderschönen Films Persepolis gab. Beim Lesen wird mir leicht mulmig zumute. Ich erzähle der jungen Frau, bei der ich die Zeitschrift durchblättere, von meinen Bedenken, und sie beruhigt mich: «Ja, aber du warst doch in Prag, du hast dort gelebt, du liebst diese Stadt.» Schon, aber das Gleiche gilt für Kundera und Paris. Außerdem fügt Marjane Satrapi hinzu: «Selbst wenn ich noch zwanzig Jahre in Frankreich leben würde, bin ich hier nicht geboren. In meinen Werken wird immer ein bisschen Iran mitschwingen. Natürlich liebe ich Rimbaud, aber Omar Khayam (Anmerkung der Redaktion: ein persischer Poet und Gelehrter aus dem 12. Jahrhundert) wird mich doch immer mehr ansprechen.» Seltsam, ich habe mich nie auf diese Weise mit dem Problem beschäftigt. Spricht Desnos mich mehr an als Nezval? Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass mich Flaubert, Camus oder Aragon mehr ansprechen als Kafka, Hašek oder Holan. Das Gleiche gilt übrigens für García Márquez, Hemingway oder Anatoli Rybakov. Wird Marjane Satrapi spüren, dass ich nicht in Prag aufgewachsen bin? Wird sie mir keinen Glauben schenken, wenn der Mercedes in der Kurve auftaucht? Sie sagt weiterhin: «Lubitsch mag sich zwar in Hollywood als Filmemacher etabliert haben, trotzdem ging es ihm immer darum, Europa neu zu erfinden, neu zu gestalten, ein Europa der osteuropäischen Juden. Auch wenn seine Filme in den USA spielen, findet die Handlung für mich in Wien oder Budapest statt. Und das ist auch besser so.» Wird sie also den Eindruck haben, meine Erzählung spiele in Paris, wo ich geboren wurde, und nicht in Prag, nach dem sich doch mein ganzes Wesen sehnt? Werden vor ihrem inneren Auge Bilder der Pariser Vororte vorbeiziehen, während ich den Mercedes bis zu jener Kurve in der Prager Vorstadt Holešovice dirigiere, in die Nähe der Brücke, die zum Stadtteil Troja führt?
Nein, meine Geschichte beginnt in einer Stadt im Norden Deutschlands, spielt in Kiel, München und Berlin, verlagert sich dann in die östliche Slowakei, macht einen kurzen Abstecher nach Frankreich, geht weiter nach London, Kiew und kehrt zurück nach Berlin, um schließlich in Prag zu enden, in Prag, Prag, Prag! Prag, die Stadt der einhundert Türme, das Herz der Welt, das Auge des Wirbelsturms meiner Vorstellungskraft, Prag mit den Fingern des Regens , kaiserlicher Barocktraum, steinernes Zentrum des Mittelalters, Musik der Seele, die unter den Brücken dahinfließt, Kaiser Karl IV., Jan Neruda, Mozart und Wenzel, Jan Hus, Jan Žiška, Joseph K., Praha s prsty deštĕ, die in die Front der Golemstatue eingelassene Chem , der kopflose Reiter in der Liliova-Straße, der Eisenmann, der darauf wartet, einmal im Jahrhundert von einem jungen Mädchen befreit zu werden, der in einem Brückenpfeiler versteckte Degen und aktuell das Geräusch der Stiefel, das für bislang unbestimmte Zeit weiterhallen wird. Ein Jahr. Vielleicht zwei. Tatsächlich sind es drei. Ich bin in Prag, nicht in Paris, in Prag. Es ist 1942. Es ist Frühlingsanfang, und ich trage keine Jacke. «Wenn es etwas gibt, das ich verabscheue, dann exotischen Charme», holt Marjane zum nächsten Schlag aus. Prag besitzt nicht die geringste Exotik, schließlich bildet es das Herz der Welt, das Hyperzentrum Europas, und in jenem Frühling 1942 wird sich dort eine der bedeutendsten Szenen der ganz großen Tragödien des Universums abspielen.
Natürlich, im Gegensatz zu Marjane Satrapi, Milan Kundera, Jan Kubiš und Jozef Gabčik lebe ich nicht im politischen Exil. Aber vielleicht kann ich genau deshalb meine Stimme dort erheben, wo ich es möchte: weil ich meinem Geburtsland keinerlei Rechenschaft schulde und auch nicht mit ihm abrechnen will. Ich verspüre für Paris weder die herzzerreißende Nostalgie noch die verzweifelte Melancholie der bedeutenden Persönlichkeiten im Exil. Aus diesem Grund kann ich meine Gedanken in Prag völlig frei schweifen lassen.
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Valčík hilft seinen beiden
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