Hier kommt Hoeneß!
– und natürlich der Siegertrunk. Lothar Matthäus, in seinem letzten großen Finale mit 38 Jahren kurz vor Schluss vereinbarungsgemäß wegen Altersschwäche ausgewechselt, kauert neben der Bank. Es steht immer noch 1 : 0. »Bei uns herrschte totale Unruhe. Alle waren aufgewühlt, nervös. Voller Vorfreude, keiner konnte stillsitzen. Und dann fangen die auch noch an, die Party vorzubereiten.« Matthäus ist wie paralysiert, beobachtet das Treiben völlig perplex. »Unser Betreuer Charly Ehmann war gerade dabei, aus der Kabine den Champagnerkübel zu holen. Ich habe mitbekommen, dass Mario Basler, der in der 88. Minute ausgewechselt worden war, schon eine Siegerkappe trug und in die Kabine wollte, um die T-Shirts zu holen. Mir war das alles nicht recht. Mich hat das extrem gestört.« Dann flippt er aus und brüllt die Kollegen an: »Männer, es ist noch nicht aus! Es ist noch nicht aus!« In diesem Moment springt die digitale Stadionuhr auf 90:00, rot auf schwarz. Der dritte Schiedsrichter hält die digitale Tafel hoch – 3, rot auf schwarz, noch drei Minuten Nachspielzeit.
Pressechef Markus Hörwick checkt noch einmal, ob in der Triumphmeldung für den Infoservice eines Mobilfunkanbieters auch keine Rechtschreibfehler sind. Der vorbereitete SMS-Text lautet: »Barcelona, 26. Mai 1999. Bayern am Ziel. Der FC Bayern München ist Champions-League-Sieger 1999. 1 : 0-Sieg durch Freistoßtor von Mario Basler (6.).« Ende. Senden bei Schlusspfiff. Erst ein halbes Jahr nach Barcelona hat er sie endlich gelöscht. »So lange hatte ich diese SMS noch im Speicher.« Als stamme sie aus einer anderen, fremden Welt.
Es ist 22:30 Uhr und exakt 35 Sekunden: Eckball für Manchester United. Was folgt, ist Strafraumbillard: Ecke David Beckham, Kopfballduelle, Querschläger Thorsten Fink, er bringt den Ball nicht aus dem Strafraum, Querschläger Ryan Giggs, er tritt die Kugel Richtung Fünfmeterraum, dort drückt Teddy Sheringham sie über die Linie – das 1 : 1. »Ich dachte zunächst, das war Abseits, hob den Arm, doch Tarnat und den Scholli hatte ich ja an die Torpfosten beordert. Das war Blödsinn, ein lächerlicher Reflex«, erinnert sich Kahn. »Mein erster Gedanke danach war: Okay, dann besiegen wir sie halt in der Verlängerung.«
Draußen an der Bank pfeffert Basler seine Siegerkappe weg. Betreuer Ehmann trägt den Champagnerkübel wieder zurück in die Kabine. Matthäus blickt starr vor sich hin, hat Tränen des Zorns in den Augen, kocht innerlich. »Ich wusste: Wir hätten den Schlusspfiff abwarten müssen. Zu früh feiern ist das Grausamste, was es gibt.« Trainer Ottmar Hitzfeld ist an die Linie gekommen und versucht seine Spieler zu sprechen. Es bleibt beim Versuch. Er spürt: Die Mannschaft ist nicht in Barcelona, sie ist weit weg, in Trance. Körper und Geist sind angeschlagen. Wie ein Boxer, der in der zwölften Runde kurz vor Schluss nach einem Volltreffer zu Boden gegangen ist und sich mühsam aufrappelt, aufsteht und nur noch dank des geistigen Autopiloten funktioniert.
Hitzfeld ist noch bei Sinnen, spürt das nahende Unheil. »Das 1 : 1 war ein Stich ins Herz. Ich musste was tun, dachte jedoch: Noch eine halbe Stunde, und ManU ist psychologisch im Vorteil.« Hitzfeld brüllt und schreit. 50 000 englische Fans brüllen und schreien. Dann gibt es wieder Eckball für Manchester United. Von Kahn aus gesehen, wieder von der rechten Seite. Wieder steht Beckham bereit. Wieder stellt Kahn die zuständigen Michael Tarnat und Mehmet Scholl an die beiden Pfosten. Ecke Beckham, ein Kopfballduell, Sheringham siegt, dann ein Zweikampfduell, Ole Gunnar Solskjaer gewinnt es mit einer Fußspitze, drückt den Ball in die Ecke des Tores – das 1 : 2. Der Knock-out. The end.
Es ist 22:32 Uhr und exakt 17 Sekunden. Genau 102 Sekunden sind zwischen den beiden Toren vergangen. Etwa so lange, wie ein durchschnittlicher Leser gebraucht hat, von der ersten Uhrzeitangabe bis zur zweiten an dieser Stelle zu lesen. 102 Sekunden in einem Spiel, das 94 Minuten gedauert hat. 102 Sekunden von 5640 Sekunden. In 0,02 Prozent des Spiels hatte Bayern es verloren. Genug, damit für Uli Hoeneß eine Welt zusammenbrach. Tränen verkniff er sich, obwohl ihm danach war. Dabei weint er schon ab und an, wenn er einen Heimatfilm anschaut, oder vor Freude bei einem Feuerwerk. An diesem Abend aber gewannen die Frusthormone die Oberhand.
»Als ich in die Kabine kam, sah ich, wie der Manager rücklings ausgestreckt auf einer der Massagebänke lag und
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