High Heels und Gummistiefel
Wochen her, dass sie verzückt zu ihnen hinaufgestarrt hatte, als sie mit Agathe Weihnachtsgeschenke kaufen gewesen war. Damals war es ihr so vorgekommen, als sei halb Paris mit derselben fröhlichen Aufgabe befasst, so bevölkert waren die Gehsteige. In ihrem Traum jedoch pendelten die Laternen gespenstisch in der Nachtluft, dunkel und trostlos, und es war niemand zu sehen.
Daisy bog von dem leeren Boulevard ab, und der Gare Saint-Lazare kam in Sicht, der, gleichfalls verwaist, einer Pappfassade glich, hinter der sich nichts als Luft befand. Binnen eines Augenblicks war sie wie durch Zauberei mitten in die leere Wartehalle des Bahnhofs versetzt worden. Diese, das hatte Marie-Laure ihr einmal erzählt, trug den Spitznamen salle des pas perdus, die Halle der verlorenen Schritte, weil so viele Menschen darin auf und ab wanderten, während sie auf ihren Zug warteten, oder auf die Ankunft eines Freundes – manchmal vergeblich. Auch Daisy, die durch die stille Halle der verlorenen Schritte ging, hatte das Gefühl, dass sie beklommen und sehnsüchtig harrte, etwas erwartete,
aber was? Keine Züge wurden auf den Anzeigetafeln für Abfahrten und Ankünfte angekündigt. Vielleicht war sie ja zu spät gekommen und hatte es verpasst – was immer es auch war. Es war ohne sie fortgegangen, und jetzt würde sie es niemals wiederfinden. Weinend und mit wild pochendem Herzen war sie aufgewacht, während Raoul friedlich neben ihr geschlummert hatte.
Raoul hatte nie Albträume. Er träumte nur von angenehmen oder »extremen« Dingen. Nicht dass dieser Traum so richtig ein Albtraum war. Er machte sie traurig, ja, aber auf eine sonderbare Art. Mittlerweile sah Daisy ihm voller Erwartung entgegen, wenn sie schlafen ging, weil sie Nacht für Nacht hoffte, dass er ihr seine Bedeutung offenbaren würde.
Auch hier, in dem belebten Flur vor den Hörsälen, schritten Leute auf und ab, warteten auf das Ende einer Vorlesung oder auf den Beginn einer anderen. Heute hatten Daisy und Etienne vereinbart, sich in der Fakultät zu treffen, bevor sie zusammen Mittagessen gingen. Das Diskussionsthema des Tages würde auf Etiennes Bitte hin Erscheinungsbild und Authentizität in der Mode sein. Daisy hatte keine rechte Vorstellung davon, was er damit meinte, obwohl er laut darüber nachgegrübelt hatte, wie es einem modebewussten Menschen gelingen sollte, sich selbst treu zu bleiben. Typisch für einen Intellektuellen, sich wegen so etwas einen Kopf zu machen! Sie freute sich sehr darauf, die Aufrichtigkeit aller Fashionistas zu verteidigen.
»Ich meine, wieso sollte man denn nicht sein wahres Selbst zum Ausdruck bringen«, erklärte sie Marie-Laure, die neben ihr stand und nervös aussah, »nur weil man sich ein paar Gedanken darüber macht, einen guten Look zusammenzustellen? Das ist doch blöd! Warum sollte dein wahres Selbst nicht in einem Schlauchtop aus Silberlamé und schrillen Socken zum Ausdruck kommen? Etienne hat immer noch so was von keine Ahnung, es ist zum Brüllen.«
Sie wollte noch hinzufügen: »Ich würde ihn ja zu gern mal mit nach Hause nehmen und ihn komplett neu durchstylen«, doch sie besann sich gerade noch eines Besseren. Tatsächlich konnte Daisy sich des Gefühls nicht erwehren, dass Etienne – vielleicht weil er so gehirnlastig war, und so reserviert – irgendwie auf einer höheren Ebene existierte als ihrer eigenen. Ihn aus seinen ultra-traditionellen Klamotten pellen und in ein trendiges Mode-Outfit stecken zu wollen, wäre... als stieße man ein Idol vom Sockel. Er war... unberührbar.
»Ja, vielleicht hast du recht«, antwortete Marie-Laure und strich sich Haar und Schal glatt. »Ich glaube, es ist fast so weit. Gleich kommen sie raus.«
Agathe, Claire und Amelie saßen ein kleines Stück entfernt auf einer Holzbank, plauderten und zeigten sich im Großen und Ganzen weniger aufgeregt als Marie-Laure. Sie hatten ganz in der Nähe zusammen Kaffee getrunken, und als sie von Daisys Verabredung erfuhren, hatte Marie-Laure in einem Anfall von Wagemut vorgeschlagen, dass sie sie alle begleiten sollten, damit sie sie dem großen Deslisses vorstellte. Claire und Agathe hatten recht lustlos zugestimmt, obgleich Daisy merkte, dass auch sie in Wirklichkeit ziemlich neugierig auf Etienne waren. Daisy warf einen raschen Blick auf ihre Uhr. Etiennes Vorlesung sollte jeden Moment zu Ende gehen. Doch als sie und Marie-Laure sich umdrehten und erwartungsvoll die Doppeltür des Hörsaals anstarrten, schwangen ein Stück weiter
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