Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
dass ein Mann nicht weinte. Doch er vermochte seine Tränen nicht zurückzuhalten. Als er endlich aufstand, musste er sich mit beiden Händen den Kopf halten und die Zähne gegen den Schmerz zusammenbeißen. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und er nahm die Umrisse von Kirstys Körper wahr, der immer noch auf dem Tisch lag. Er trat näher. Der Anblick und der Geruch von Leichen machten ihm inzwischen kaum noch etwas aus. Aber das Gesicht seiner süßen Kirsty so zu sehen … Er vergrub den Kopf in ihren Röcken und stöhnte leise. Er hätte ihr sagen sollen, dass er sie wirklich liebte. Nun würde sie es nie erfahren.
Kurz darauf holte ihn das Stampfen von Pferdehufen auf der weichen Erde in die Wirklichkeit zurück. Da kam jemand. Er wusste, wenn man ihn zusammen mit all diesen Leichen in der Kate antraf, würde man ihn für den Urheber des Blutbads halten und auf der Stelle hängen. Rasch tastete er die Stelle des Bodens ab, wo er seiner Erinnerung nach sein Messer fallen gelassen hatte. Als er die Waffe an sich nahm, drangen vom Hof bereits Stimmen zu ihm. Die Dunkelheit würde sein Verbündeter sein. Langsam, mit einem unheilverheißenden Knarren, öffnete sich die Tür. Mit zwei Schritten hatte er sie erreicht, im selben Moment, als die Neuankömmlinge über die Schwelle traten.
»Bist du dir sicher, dass sie hier ist? Wenn du meine Meinung hören willst, Angus, wirkt das Ganze merkwürdig verlassen.«
»Meine Schwester hat mir versprochen, heute Nacht hierzubleiben. Wenn sie mir ungehorsam war, dann wird sie meinen Gürtel zu spüren bekommen, das schwöre ich dir!«
Den Blick auf das einfallende Mondlicht gerichtet, das eine Silhouette erkennen ließ, zog Alexander sich tiefer in den Schatten hinter der Tür zurück. Der Besucher ging vorsichtig voran und zog dabei seine Waffe aus der Scheide.
»Riechst du, was ich rieche, Roddy?«
»Ja … Diesen Gestank kenne ich.«
»Verflucht! Hast du etwas, um eine Kerze anzuzünden?«
»Warte.«
Alexanders Herz schlug zum Zerspringen; ein Schweißtropfen lief ihm zwischen den Schulterblättern hinunter. Die Hand um das Heft seines Messers gekrallt, wartete der junge Mann auf eine Gelegenheit, Fersengeld zu geben. Ob draußen noch weitere Männer waren? Er hatte jedenfalls nur die Stimmen dieser beiden gehört.
Derjenige, der versuchte, mit einem Feuerstein einen Funken zu schlagen, fluchte und machte endlich die Tür frei. Jetzt oder nie! Wenn er wartete, würde in dem hell erleuchteten Raum das ganze Entsetzen des Massakers offensichtlich werden. Alexander stürzte durch die Türöffnung und stieß dabei einen der Männer an. So schnell, wie es ihm seine immer noch zitternden Beine gestatteten, rannte er auf die Hügel zu und betete, der Mond möge hinter den Wolken verborgen bleiben.
Hinter sich vernahm er Gebrüll. Ein Schuss krachte und hallte in den Bergen wider. Die Nacht schützte ihn, doch sie verbarg auch Hindernisse, über die er stolperte. Schritte kamen näher. Er strauchelte über einen Stein und stürzte in ein Stechginstergebüsch, das ihm das Gesicht zerkratzte. Wieder einmal entglitt ihm sein Messer. Er spürte, wie jemand ihn zu Boden drückte, Finger legten sich um seinen Hals. Er wehrte sich heftig, wälzte sich mit seinem Angreifer auf dem Boden und schlug zu, wo er konnte. Aber seine Kräfte begannen zu schwinden. Gerade, als der Mond hinter den Wolken hervorkam, heftete der andere ihn fest an den Boden. Alexander konnte sein Gesicht, das im Schatten lag, nicht erkennen, doch unglücklicherweise sah der andere sehr gut, denn er erstarrte.
»Alasdair Dhu?«
Alexander nahm den Kopf des Mannes in beide Hände, zog ihn auf sich zu und schlug die Zähne in sein Ohr. Ein Gejaul erklang, während sich ein scheußlicher Blutgeschmack in seinem Mund ausbreitete. Alexander ließ los, wälzte sich seitwärts ins hohe Gras und spuckte das Stück Ohr aus, das auf seiner Zunge lag. Als er aufstand, sah er, wie in der Hütte Licht aufflammte. Dann hallte ein zweiter Schrei durch die Nacht. Sie hatten Kirsty gefunden …
Dieses schreckliche Ereignis hatte sich an einem Abend im November 1756 abgespielt. Nach dem Tod seiner Kumpane war Alexander über die Heide geirrt und hatte sich durch Stehlen oder die Jagd ernährt.
Der junge Mann, den man wegen der Morde in der Kate suchte, hatte die nächsten Monate damit verbracht, vor der Schwarzen Garde zu flüchten. In seiner Verzweiflung war er, ständig betrunken, von einer Taverne
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