Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
für immer auseinandergingen und sie ihren Enkelsohn niemals sehen würde? Doch die tiefe Abneigung, die sie diesem Land gegenüber empfand, hatte die Oberhand über die Familienbande gewonnen. Nein. Undenkbar, dass Justine geweint haben sollte …
Das vergilbte Papier brach, als sie es auseinanderfaltete. Oben stand das Datum: 18. Juli 1761. Isabelle ließ den Blick über die gleichmäßige Schrift gleiten. An einigen Stellen war sie verschwommen, und viele Wörter waren von hellen Flecken umgeben, an denen das Papier wellig war. Tränenspuren? Isabelle trat ans Fenster, um besser zu sehen, und zog die Augen zusammen.
Meine liebste Tochter,
wenn du diese Worte liest, befinde ich mich bereits auf dem Schiff, das mich in die alte Heimat trägt. Die Reisevorbereitungen sind fast völlig abgeschlossen; es sind nur noch die Dinge übrig, die man in letzter Minute einpackt. Seit vielen Jahren warte ich darauf, nach Frankreich zurückkehren zu können. Doch ich muss dir gestehen, dass mich heute, da ich kurz davor stehe, mich einzuschiffen, auch eine gewisse Trauer bewegt.
Das ist das Alter, sage ich mir. Aber nein, im Grunde meiner selbst weiß ich, dass es einen anderen Grund gibt … Mit schwerem Herzen …
An dieser Stelle wurde die Schrift unleserlich. Eine Zeile weiter wirkte sie von neuem exakt und flüssig. Offenbar hatte Justine erst einige Zeit später weitergeschrieben.
Seit meiner Rückkehr nach Québec hatte ich Zeit, eine Bilanz meines Lebens zu ziehen … Und mit einem Mal fand ich mich einer beängstigenden Leere gegenüber, an der ich mir nur selbst die Schuld geben kann. Ich weiß, dass ich mein Unglück selbst verschuldet habe. Seit dem Tod deines Vaters ist mir klar geworden, was dieser arme Mann alles getan hat, um mich glücklich zu machen. Ich bin undankbar gewesen. Ja, Isabelle, ich gestehe es: Ich bin undankbar und egoistisch. Stets habe ich mich geweigert, die Liebe, die Charles-Hubert mir entgegenbrachte, anzunehmen … Erst jetzt erkenne ich, dass er ein Herz aus Gold besaß.
»Und er ist vor Kummer darüber gestorben …«, murrte Isabelle.
Mein ganzes Leben lang habe ich meinen Schmerz und Groll genährt. Jeden Tag habe ich so den Schutzpanzer um mich herum verstärkt und mich weiter isoliert. Ich war böse auf meinen Vater, auf Charles-Hubert und auch auf dich, Isabelle, weil du ein Spiegelbild dessen warst, was ich war und nie mehr sein werde, ein junges Mädchen, glücklich, sorglos und verliebt. Es wird dir sicherlich schwerfallen, das zu glauben, aber ich bin nicht immer so gewesen, wie du mich kennst. Dein Vater hat sich in eine lebensfrohe Frau verliebt. Doch zu seinem Unglück ist dieses fröhliche junge Mädchen in der kalten Morgensonne eines Februartags im Jahr 1739 am Kai von La Rochelle zurückgeblieben. Oft sage ich mir, dass ich diese beschwerliche Schiffsreise nach Frankreich nur unternehme, um sie wiederzusehen und Frieden mit ihr zu schließen.
Sie hieß Justine Lahaye und war in einen anderen verliebt, Peter Sheridan, ein irischer Hauptmann im Dienst des Königs von Frankreich und der Verfasser der Briefe, die du auf dem Dachboden gefunden hast. Gestatte mir, dir ein wenig über diese Liebe zu erzählen …
Peter und Justine begegneten einander zufällig im Mai 1738 bei einem Fest, das zu Ehren des neuen Präfekten von La Rochelle gegeben wurde. An diesem Tag ging über dem Platz ein Unwetter nieder, und alles rannte und flüchtete sich in die wenigen benachbarten Läden und Herbergen. Das Gedränge war so groß, dass Justine sich zwischen einer Theke, die sich unter Gebäck bog, und einem Soldaten wiederfand, der mit seinem ganzen Gewicht auf ihrem Fuß stand. Wütend stieß sie ihn weg und wollte ihn auf ihre unangenehme Lage aufmerksam machen, als sich ihr ein attraktives, lächelndes Gesicht zuwandte. Sie fiel fast in Ohnmacht und blieb still. »Verzeihung, Mademoiselle«, sagte der Mann, »darf ich mich vorstellen? Peter Sheridan, Unterleutnant bei der französischen Garde. Ich bin … außerordentlich bestürzt.« Sie kam ein wenig zu sich und brachte es fertig, ihm zu antworten. »Mademoiselle Justine Lahaye, außerordentlich erfreut.« Dann standen die beiden da, ohne sich zu rühren und ohne ein weiteres Wort, sahen einander tief in die Augen und ließen nur ihre Blicke von ihren Empfindungen sprechen.
Nachdem sie einander häufig, doch stets im Rahmen des Anstands, getroffen hatten, wurde Peter Ende Juli 1738 in die Bretagne
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