Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
nicht ihr richtiger Vater gewesen sein? Aber das war absurd, völlig undenkbar! Das war nur der letzte Schlag ihrer Mutter, die ihr in ihrem Leben schon so viel Böses angetan hatte! In einem heftigen Anflug von Zorn und Kummer richtete sie sich auf und trampelte stöhnend auf den Seiten herum. Wieder kamen ihr die Tränen.
»Nein, du lügst mich an, Mutter! Ich bin kein Bastard! All das ist nichts als ein Lügengespinst! Charles-Hubert war mein Vater … Du hast kein Recht, mir das anzutun! Du … du … Herrgott! Die Hölle ist noch eine zu geringe Strafe für alles, was du mir zugefügt hast! Du hast mir alles genommen! Meinen Vater, meine Liebe, mein Leben!«
Der scharfe Schmerz verschlug ihr den Atem, und sie sank auf dem Sessel zusammen. Gedämpft drangen die Stimmen Gabriels und des Hauslehrers zu ihr. Ein unwilliger Ausruf, Gelächter … Sie hörte auch das metallische Klirren aus der Küche und Louisettes Stimme, die mit Arlequine schimpfte. All diese vertrauten Geräusche beruhigten und trösteten sie. Ihr Zorn verflog und machte neuen Empfindungen Platz.
Sie starrte auf das schreckliche Geständnis hinunter, das sie hatte zertreten und aus der Welt schaffen wollen, und stellte sich vor, wie ihre Mutter sich, von Reue umgetrieben, über die weißen Blätter beugte und versuchte, ihr alles zu erklären. Dann erinnerte sie sich an den Tag, an dem Gabriel sie, das Gesicht verzerrt vor Unverständnis und Leid, gefragt hatte, was denn ein Bastard sei. Damals hätte sie alles gegeben, um ihren Sohn vor dem Gift dieser Natternzungen zu schützen, die seine Unschuld bedrohten. Hatte sie nicht versucht, ihm die Wahrheit über seinen leiblichen Vater zu verheimlichen, um ihn zu beschützen, genau wie ihre eigene Mutter das bei ihr getan hatte? Und außerdem, wie sollte denn ein Kind das Liebesleid Erwachsener begreifen, für das es den Preis entrichtete? Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie für ihre Mutter dieses Kind gewesen war und sie ebenfalls entschieden hatte, ihm nichts zu sagen.
Wieder spürte sie auf ihren Lippen den Geschmack der Tränen, die ihrer Mutter über die Wangen gelaufen waren und die sie bemerkt hatte, als sie einander geküsst hatten, an dem Tag, an dem sie für immer auseinandergegangen waren. Jetzt verstand sie. Diese Tränen waren aus dem Herz ihrer Mutter aufgestiegen, und sie konnte sich leicht vorstellen, warum danach nichts mehr von ihr übrig gewesen war.
»Mein Gott, Mama!«
Fieberhaft suchte sie unter den zerwühlten Seiten nach dem letzten Blatt. Endlich fand sie es und las noch einmal die letzte Zeile: Deine dich von ganzem Herzen liebende Mutter… Ihr Leben lang hatte sie darauf gewartet, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Dann hatte ihre Mutter sie also geliebt? Ihre Mutter hatte um sie geweint? Leider erfuhr sie das erst heute, nachdem sie lange tot war … ohne dass Justine noch einmal Gabriels Gesicht gesehen hätte. Sie hatte den Brief sieben Jahre zu spät gefunden! Sie brach zusammen und schluchzte lange, vergoss ganze Tränenströme über dieses letzte Stück ihres zerstörten Lebens, das ihr durch die Finger geronnen war.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war es dunkel. Sie bemühte sich, an nichts zu denken, und betrachtete die flackernde Flamme einer Kerze, die jemand auf den Spieltisch gestellt hatte, während sie schlief. Aus der Küche drang Gabriels Lachen zu ihr. Der Unterricht war zu Ende. Wahrscheinlich half der kleine Junge Marie, Élisabeth zu füttern, die mit durchdringendem Geschrei ihrer Freude darüber Ausdruck verlieh, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
Die Kinder erinnerten sie an ihre mütterlichen Pflichten, und sie begann sich aufzusetzen. Doch ein Rascheln ließ sie erstarren, und sie hielt den Atem an. Warum hatte sie mit einem Mal das merkwürdige Gefühl, Alexander sei hier und beobachte sie? Dabei glaubte sie nicht an Gespenster. Das gedämpfte Geräusch wiederholte sich. Mit pochendem Herzen richtete sie sich auf und legte die Hände auf die Sessellehnen. Da befand sich wirklich jemand bei ihr im Raum.
»Seid Ihr erwacht?«
Das war die tiefe, freundliche Stimme von Jacques Guillot. Er stand hinter ihr und berührte zärtlich ihre Schulter. Verstört musterte sie seine Hand und rührte sich nicht. Seit sie nach Montréal zurückgekehrt war, legte er oft schützend den Arm um sie.
»Isabelle?«
»Ihr habt mir Angst gemacht!«
»Es… tut mir leid. Als ich hereingekommen war, habe ich Euch hier
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