Hill, Susan
anzuschauen.
Sie brauchte fünfzehn Minuten bis zu der Brücke über dem Fluss, an der sie an dem Tag, als alles begann, angehalten hatte.
Heute war die Sonne herausgekommen, obwohl es nachts gefroren hatte und die Luft immer noch kalt war. Freya schloss das Auto ab und ging über die Brücke, wo sie an der abschüssigen Böschung zu einem kleinen Pfad neben dem Wasser hinunter gelangen konnte.
Sie schaffte es nicht, ihre Gedanken zu ordnen, die im Kreis herumwirbelten wie die Strudel um einige Steine ein paar Meter entfernt, und als sie nach unten blickte, sah sie unwillkürlich das Spiegelbild von Simon Serrailler, deutlich und ungebrochen durch das strömende Wasser.
Sie verbrachte einen langen, öden Nachmittag im Gewerbegebiet und am Computer, zwang sich dazu, sich mit dem Veruntreuungsfall herumzuplagen, sprach mit niemandem. Sie verließ das Dezernat als Letzte.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Lafferton zögerte sie, nach Hause zu fahren und allein zu sein, überlegte, eines der Chormitglieder anzurufen, auf die vage Möglichkeit hin, zusammen essen zu gehen oder sich zumindest auf einen Drink zu treffen. Aber zuvor bog sie in die Brewer Street und auf den Parkplatz vor dem Mead House. Sie war zu sehr mit dem Veruntreuungsfall beschäftigt gewesen, um die Unterlagen über den vermissten Mountainbiker vollständig durchzulesen, und hatte vergessen, die Notizen mit nach Hause zu nehmen, aber der Name und die Adresse des Mannes, der ihn zuletzt gesehen hatte, waren ihr wenigstens im Gedächtnis geblieben.
Eine kleine, orientalisch aussehende Frau öffnete die Tür zu Wohnung 6 und teilte Freya lächelnd und mit großem Charme mit, dass Mr Turner vor ein paar Monaten ausgezogen war, um seinen Lebensabend an der Costa del Sol zu verbringen.
17
D er Raum lag im Halbdunkel. Die cremefarbenen Leinenvorhänge ließen gerade genug von der Wintersonne hindurch, um das Dunkel ein wenig zu erhellen, aber nicht die ganze Helligkeit, die ablenkend hätte sein können. Es war still, doch in die Stille drang das Geräusch seidiger Wellen, die über einen Sandstrand aufliefen und ihren eigenen sanften Rhythmus erzeugten.
Es war halb vier. Das Haus war still.
Karin McCafferty lag auf einer kleinen Chaiselongue in ihrem Schlafzimmer, die Füße auf der erhöhten Lehne, die Arme wie zu einer Umarmung um den Oberkörper gelegt. Sie stellte sich eine Wiese mit leuchtendem, saftig grünem Frühjahrsgras vor, gesprenkelt mit hässlichem schwarzem Unkraut, das in Büscheln wuchs und die Frische und das strahlende Grün der Wiese besudelte. Zuerst konzentrierte sie sich auf das Gras selbst, betrachtete die kräftige Farbe, spürte die gesunden Wurzeln in der Erde, voller Kraft und Lebendigkeit und Wachstumspotenzial, schaute sich die einzelnen Halme mit ihren dünnen, bleichen Adern an, die den frischen Saft durch die Pflanze nach oben brachten.
Sie atmete tief und bewusst aus dem Bauch heraus wie eine Sängerin, zählte zehn Atemzüge, machte eine Pause, weitete ihre Lunge und die Muskeln um ihre Taille, atmete dann sanft und langsam aus, spürte, wie sich ihr Körper entspannte.
Nach ein paar Augenblicken stellte sie sich das Tor am anderen Ende der Frühlingswiese vor. Auf dem federnden Boden ging sie darauf zu und entriegelte es. Über ihrem Kopf war der Himmel von einem klaren, blassen Blau. Die Sonne schien.
Schafe kamen durch das offene Tor hereingeströmt, Mutterschafe mit ihren Lämmern, die über das Gras hüpften und sprangen. Die Herde verteilte sich über die ganze Wiese, und Karin dirigierte jedes einzelne zu einem der dunklen, hässlichen Büschel, und die Schafe folgten ihren Anweisungen genau, obwohl alles ganz still blieb, sie musste nicht pfeifen oder irgendwelche Bewegungen mit den Händen machen. Dann, auf ein zweites telepathisches Signal, begann jedes Schaf das ihm zugewiesene Unkraut zu fressen, es langsam und systematisch zu entwurzeln und zu verschlingen, es total zu zerstören, Wurzeln, verdrehte, geschwärzte, übel aussehende Blätter, warzige Stängel, die gesamte Pflanze. Hatte das Schaf sein Mahl beendet, war das Loch, aus dem das Unkraut aufgeschossen war, verschwunden, war überwachsen mit frisch gesprossenem jungem Gras, saftig und kraftvoll.
Karin betrachtete das Bild mit absoluter Konzentration, erstaunt über die Lebendigkeit der Einzelheiten. Die Wiese stellte ihren Körper dar, das Gras das gesunde Gewebe, das Unkraut den Krebs, der von den robusten und gehorsamen Schafen
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