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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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erzählte ich ihm, dass ich mich von meinem Mann getrennt hatte und in Toronto wohnte. Ich sagte, dass meine Kinder eine Zeit lang bei mir gewesen waren, aber jetzt mit ihrem Vater Ferien machten.
    Er erzählte mir, dass er in Kingston wohnte, aber noch nicht lange. Er hatte Johnston erst vor kurzem durch die Arbeit kennen gelernt. Er war wie Johnston Bauingenieur. Seine Frau war Irin, auch dort geboren, hatte aber in Kanada gearbeitet, als er sie kennen lernte. Sie war Krankenschwester. Zurzeit war sie in Irland, im County Clare, und besuchte ihre Familie. Die Kinder hatte sie mitgenommen.
    »Wie viele Kinder?«
    »Drei.«
    Als wir mit dem Abwasch fertig waren, gingen wir ins Wohnzimmer und boten an, mit den Jungen Scrabble zu spielen, damit Sunny und Johnston einen Spaziergang machen konnten. Ein Spiel – dann war Schlafenszeit. Aber sie überredeten uns, noch eine Runde anzufangen, und wir spielten immer noch, als ihre Eltern zurückkamen.
    »Was hab ich dir gesagt?«, sagte Johnston.
    »Es ist dasselbe Spiel«, sagte Gregory. »Du hast gesagt, wir können zu Ende spielen, und es ist dasselbe Spiel.«
    »Von wegen«, sagte Sunny.
    Sie sagte, es sei ein herrlicher Abend, und sie und Johnston würden verwöhnt, von Hausgästen, die sich als Babysitter entpuppten.
    »Gestern Abend sind wir sogar ins Kino gegangen, und Mike ist bei den Kindern geblieben. Wir haben einen alten Film gesehen.
Die Brücke über den Kwai.«
    »Am«,
sagte Johnston.
»Die Brücke am Kwai.«
    Mike sagte: »Den hatte ich sowieso schon gesehen. Vor Jahren.«
    »Er war ganz gut«, sagte Sunny. »Bloß mit dem Schluss war ich nicht einverstanden. Ich fand, der Schluss war falsch. Als Alec Guiness den Draht im Wasser sieht, am Morgen, wisst ihr, und ihm klar wird, dass jemand die Brücke in die Luft sprengen will? Und er rastet völlig aus, und dann wird es so kompliziert, und alle müssen dabei draufgehen und so? Also ich finde, er hätte einfach den Draht sehen und begreifen sollen, was passieren wird, und er hätte auf der Brücke bleiben und damit in die Luft fliegen sollen. Ich finde, das hätte seine Figur getan, und es wäre dramatisch wirkungsvoller gewesen.«
    »Nein, wäre es nicht«, sagte Johnston im Tone von jemandem, der diese Diskussion schon einmal geführt hatte. »Wo bleibt die Spannung?«
    »Ich bin Sunnys Meinung«, sagte ich. »Ich erinnere mich, dass ich den Schluss zu kompliziert fand.«
    »Mike?«, fragte Johnston.
    »Ich fand es ganz gut«, sagte Mike. »So, wie es war.«
    »Die Männer gegen die Frauen«, sagte Johnston. »Die Männer gewinnen.«
    Dann befahl er den Jungen, das Scrabblespiel einzupacken, und sie gehorchten. Aber Gregory kam auf die Idee, die Sterne sehen zu wollen. »Das hier ist der einzige Ort, wo wir sie sehen können«, sagte er. »Zu Hause ist viel zu viel Licht und Scheiß.«
    »Es setzt gleich was«, sagte sein Vater. Aber dann lenkte er ein: Also gut, fünf Minuten, und wir gingen alle hinaus und betrachteten den Himmel. Wir suchten das Reiterlein, gleich neben dem zweiten Stern in der Deichsel des Großen Wagens. Wenn man das sehen konnte, sagte Johnston, dann hatte man so gute Augen, dass man von der Air Force genommen wurde, wenigstens damals im Zweiten Weltkrieg.
    Sunny sagte: »Also ich kann es sehen, aber schließlich wusste ich vorher, dass es da ist.«
    Mike sagte, ihm gehe es genauso.
    »Ich konnte es sehen«, sagte Gregory verächtlich. »Ich konnte es sehen, egal, ob ich wusste, dass es da ist oder nicht.«
    »Ich konnte es auch sehen«, sagte Mark.
    Mike stand schräg vor mir, eigentlich näher bei Sunny als bei mir. Niemand war hinter uns, und ich wollte ihn gern streifen – seinen Arm oder seine Schulter, nur leicht und wie zufällig. Wenn er daraufhin nicht auswich – aus Höflichkeit, weil er meine Berührung für einen echten Zufall hielt? –, wollte ich ihm den Finger auf den bloßen Nacken legen. Hätte er das auch getan, wenn er hinter mir gestanden hätte? Hätte er sich auch darauf konzentriert statt auf die Sterne?
    Ich hatte jedoch das Gefühl, dass er ein gewissenhafter Mann war und sich zurückhalten würde.
    Und aus diesem Grund würde er in der Nacht bestimmt nicht in mein Bett kommen. Es war ohnehin so gut wie unmöglich, weil zu riskant. Oben waren drei Schlafzimmer – das Gästezimmer und das Elternschlafzimmer, die beide von einem größeren Zimmer abgingen, in dem die Kinder schliefen. Jeder, der in die kleineren Schlafzimmer wollte, musste durch das

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