Himmels-Taler
beiden Händen, berührte sich selbst, breitete die Schwingen aus und hob ab. Es kostete sie einige Mühe, die beiden zu tragen.
Sie brachte sie an die Stelle, wo die beiden Linien sich überschnitten. Dort blieb sie schweben, während Mark und Grazi aus dem Netz kletterten und sich ins Wasser fallen ließen. Dann flog sie zum Strand zurück. Dort wollte sie schwere Steine sammeln, mit denen sie das Netz beschweren konnte, damit es bis zum Meeresboden sank, wenn die Zeit gekommen war, die beiden wieder abzuholen.
Mark und Grazi hielten sich an ihren Knochenhänden fest, während sie in die Tiefe sprangen. Als sie die Form eines Segelboots angenommen hatten, waren sie auf dem Wasser getrieben, weil ein Boot auch dann noch Auftrieb hatte, wenn es gekentert war. Jetzt aber hatten sie ihre normale Gestalt, sanken langsam ins Wasser. Zum Glück hatten sie die Luftpflanze dabei.
Nervös hielt Mark Ausschau nach großen Fischen. Ob sie die Meerfrau wohl überraschen könnten? Das wäre wunderbar! Aber vielleicht würde sie ihnen auch einen furchtbaren Empfang bereiten.
Sie erreichten die Algengewächse am Boden. Nun befanden sie sich in einem ganzen Wald von Meerbäumen, Meersträuchern und Meergras. Bis auf die kleinen Fische, die zwischen allem hindurchschwammen, hätte man fast glauben können, in einem Festlanddschungel zu sein oder in irgendeiner Gegend im Hypnokürbis.
Sie blickten sich um. Die Dunkelheit machte ihnen ebensowenig zu schaffen wie in der Nacht, und kurz darauf hatten sie bereits den Baldachin der Meerfrau entdeckt. Die Richtungsanweisungen der Pflanzen hatten gestimmt, und nun würden sie Dolph retten können – sofern die Meerfrau es nicht verhinderte.
Grazi blieb zurück, während Mark, auf alles gefaßt, sich auf den Weg machte. Wenn ihm irgend etwas zustoßen sollte, würde sie versuchen zu fliehen. Möglicherweise würde ihr gelingen, woran er scheiterte, wenn die Meerfrau nichts von ihrer Anwesenheit erfuhr. Das war der zweite Teil des Plans. Sie hatte die Luftpflanze bei sich, mit der sie, sollte Mark feststellen, daß alles in Ordnung war, Dolph an die Wasseroberfläche befördern konnten, ohne daß er dabei ertrinken mußte.
Dann erblickte Mark auch schon die Meerfrau, sie schwebte ohne jede Bewegung auf der Stelle. Sie starrte irgend etwas am Meeresboden an und sah nicht einmal auf, als Mark eintrat. Das war wirklich sehr seltsam!
Dann sah er, was sie da anstarrte. Es war ein Hypnokürbis! Kein Wunder, daß sie auf ihn nicht reagierte; kein Lebewesen reagierte auf irgend etwas anderes, solange es in das Guckloch eines Kürbisses starrte. Nur die Kürbisbewohner selbst waren dagegen immun, weil der Kürbis ihre natürliche Umwelt war. Aber wo war Dolph? Er war nirgendwo zu sehen. Wie konnte er gerettet worden sein, wenn…?
»Der Kürbis!« rief Grazi, die von hinten durch die Wand spähte. »Er ist der Kürbis!«
Natürlich! Wie schlau von dem Jungen! Er hatte die Meerfrau ausgeschaltet, indem er sie mit einem Kürbis lähmte.
Nun brauchten sie den Kürbis nur im Netz an die Oberfläche zu hieven, dann war die Sache erledigt. Das lief ja viel besser als vorgesehen!
Mark nahm den Kürbis auf. Doch dabei beging er einen schrecklichen Fehler: Er unterbrach den Blickkontakt der Meerfrau mit dem Guckloch.
Plötzlich war sie wieder bei sich. »Was geht hier vor?« wollte sie wissen.
Der Kürbis verwandelte sich in Dolph. »Mela, darf ich dir Mark Knochen vorstellen?« sagte er. »Mark, das ist Mela Meerfrau. Mark ist hier, um mich zu retten.«
»Aber ich habe überhaupt nicht gesehen, wie er hereinkam!« rief Mela. »Wie hat er das gemacht?«
»Das habe ich gemacht«, erklärte Dolph. »Ich habe die Gestalt eines Hypnokürbisses angenommen, damit du ihn nicht aufhalten konntest.«
»Aber du hast doch versprochen, mir nicht zu schaden!«
»Ich habe dir auch nicht geschadet. Ich habe dich nur eine Weile aufgehalten, damit ich fliehen konnte. Das ist doch wohl fair, nicht wahr?«
»Nein, das ist überhaupt nicht fair!« erwiderte sie. »So sicher wie Feuer den Sand schmilzt, ist das nicht fair!«
»Aber ich habe dich nicht einmal berührt! Ich will doch nur fliehen.«
»All meine Hoffnung, jemals wieder eine Familie zu haben, hängt allein von dir ab«, sagte sie in Tränen aufgelöst. Mark verstand zwar nicht, wie man unter Wasser auch noch weinen konnte, aber sie schaffte es irgendwie. Das beunruhigte ihn, denn Tränen waren eine ganz berüchtigte Waffe, die Frauen gegen Männer
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