Himmelsdiebe
Boden hockte, vor ihren Bildern, und sie mit diesen leeren Augen ansah, spürte Laura ein Mitleid, das schlimmer war als jeder eigene Schmerz. Was war aus ihm geworden? Ein ausgestopfter Zauberer, von dem man nur noch ahnen konnte, welche Kunststücke er einst vollbracht hatte.
»Es geht nicht anders, Harry«, sagte sie. »Nur wenn ich nüchtern bleibe, werde ich nicht wieder verrückt. Das ist meine einzige Chance.«
»Und was hast du davon?« Plötzlich sprang er auf und packte ihre Arme. »Soll ich dir sagen, warum wir jeden Tag scheitern? Darum!«
Er presste sie an sich, um sie zu küssen. Mit Gewalt stieß sie ihn zurück.
Doch er ließ sie nicht los. Wie zwei Schraubzwingen umspannten seine Hände ihre Arme.
»Wie soll unser Bild fertig werden, wenn es nicht wahr ist?«, fragte er.
»Manche Dinge sind vollkommen, bevor sie vollendet sind.«
»Von wem hast du denn die Weisheit? Von Franz Schubert? Dass ich nicht lache! Seine Sinfonie blieb nur deshalb unvollendet, weil er an der Syphilis verreckte!«
Voller Verachtung schleuderte Harry ihre Arme von sich und wandte sich ab. Während sie auf seinen Rücken starrte, tauchte plötzlich ein Bild aus ihrer Seele auf, das dort lange Zeit verschollen war. Er lag nackt auf einem Felsen, am Ufer der Ardèche. Brütend heiß schien die Mittagssonne vom Himmel, eine Libelle tanzte über das Wasser, über sein Gesicht und seinen Körper, der noch die Narben ihrer Liebkosungen trug. Damals hatte sie mit jeder Faser ihres Leibs gewusst, dass sie nie wieder einen Mann so sehr lieben würde wie diesen Mann in diesem Augenblic k …
Mit der ganzen Wucht der Wahrheit überkam sie die Erinnerung.
Doch ihre Erinnerung war nicht die einzige Wahrheit. Es gab noch eine andere Wahrheit, die sie aber niemals aussprechen durfte. Weil Harry sie nicht verkraften würde.
Was sollte sie tun?
Sie ging zum Schrank, holte ihr Manuskript daraus hervor und drückte es ihm in die Hand.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein Text, den ich geschrieben habe.«
»Und was soll ich damit?«
»Lesen, natürlich, verdammt noch mal!«
»Weshalb?« Widerwillig blickte er auf den Packen Papier in seiner Hand. »Ich bin im Moment an keiner Lektüre interessiert.«
Laura biss sich auf die Lippe. »Ich brauche deinen Rat«, sagte sie schließlich. »Ein Verlag hat mir angeboten, mein Manuskript zu drucken. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich möchte.« Und als er immer noch zögerte, fügte sie hinzu: »Betrachte es als eine Art Wahrheitsspiel. Damit wir endlich wissen, was aus uns wird.«
18
Statt auf Schatzsuche zu gehen, blieb Harry an diesem Abend zu Hause. Er hatte beschlossen, die Nacht mit Laura zu verbringen, zum ersten Mal nach langer Zeit. Kaum war er ins Penthouse zurückgekehrt, schloss er sich in sein Atelier ein und begann, ihr Manuskript zu lesen. Bereits nach wenigen Zeilen hatte er vergessen, wer und wo er war. Mit jeder Seite drang er tiefer in die Seele seiner Geliebten ein, fasziniert und voller Bewunderung, mit welchem Mut und welcher Klarheit sie ihren Zusammenbruch sowie die Stationen ihrer Reise auf die andere Seite beschrieb, ohne Rücksicht auf sich selbst, bis zu ihrer Rückkehr und Genesung. Ein paar Mal musste er weinen, manchmal auch laut lachen. Noch nie aber hatte er sich seiner Windsbraut so nahe gefühlt wie bei der Lektüre dieses Berichts, nicht mal in den Stunden innigster Zärtlichkeit. Und noch nie hatte er so deutlich seine eigene Unfähigkeit zu spüren bekommen, das Leben mit einem anderen Menschen wirklich zu teilen. Laura war durch die Hölle gegangen, und er hatte nicht mal geahnt, was mit ihr geschehen war.
»Un d – was sagst du dazu?«, fragte sie, als er am nächsten Morgen bei ihr erschien.
»Es ist großartig. Bisher habe ich immer gedacht, so was könnte man nur mit Pinsel und Farbe hinkriegen, allenfalls noch mit Tönen. Aber nicht mit Buchstaben.«
Harry sah, wie stolz sein Lob sie machte. Sie hatte ihn mit ihrem Text gezwungen, sich im Spiegel ihrer Seele anzuschauen. Das hatte noch niemand vor ihr geschafft, und das wusste sie. Doch er sah auch die Unsicherheit in ihrem Gesicht.
»Du meinst also, ich soll es veröffentlichen?«
»Was für eine Frage! Glaubst du, Michelangelo hat jemanden gefragt, ob er die Pietà ausstellen soll? Du musst das Buch herausbringen! Was anderes kommt gar nicht infrage. Oder ich zeige dich bei der Ausländerbehörde an, wegen Kapitalverbrechen an der Kunst. Dann schmeißen sie dich raus aus
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