Himmelsdiebe
seinen Sohn ins Café Flore eingeladen, zusammen mit Mathilde und Laura, um Abschied zu feiern. In weniger als zwei Stunden würde Bobby mit dem Zug nach Le Havre aufbrechen, um dort ein Schiff nach Amerika zu besteigen.
»Bevor du verschwindest, sollst du eins wissen«, sagte Harry, als er mit seinem Sohn anstieß. »Ich bin nicht ganz und gar gewissenlos gewesen, was dich betrifft. Vielleicht ist es einfach nur so, dass ich manchmal Angst hatte vor meinen eigenen Gefühlen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Bobby. »Gute Väter gibt es im Dutzend. Ich habe sie bei meinen Mitschülern erlebt. Die meisten waren Nazis.«
»Du warst manchmal aber auch unmöglich zu deinem Vater«, sagte Mathilde. »Weißt du noch, wie du ihm das ganze Gesicht mit Schokoladenpudding eingeschmiert hast?«
»Das hast du wirklich getan?«, fragte Laura amüsiert.
»Allerdings«, antwortete Harry an Bobbys Stelle. »Damals hatte ich noch die Hoffnung, mein Sohn wollte Künstler werden wie sein Vater. Außerdem hatte er die Angewohnheit, mir immer von seinen Bonbons anzubieten. Nur wehe, wenn ich eins nahm und es mir in den Mund steckte! Dann brüllte er wie am Spieß. Und wenn er bei mir auf den Schoß saß, pinkelte er mich regelmäßig voll. Aber ich will mich nicht beklagen. Wahrscheinlich hat er die Unarten ja von mir.«
»Dann ist es umso besser«, lachte Bobby, »dass wir nicht zusammen unter einem Dach leben mussten. Ich glaube, das hätte nur Mord und Totschlag gegeben.«
Harry schaute seinen Sohn an. Die Ähnlichkeit war geradezu lächerlich. Und doch hatte er Bobby nie wirklich gekannt, und erst jetzt, nachdem sie ein paar Wochen miteinander verbracht, sogar Weihnachten und Silvester zusammen gefeiert hatten, wurde Harry bewusst, wie sehr er unter der Trennung gelitten hatte. Bobby war ein Wesen, das stets in Raum und Zeit von ihm getrennt gelebt hatte, eine geläufige und trotzdem völlig abstrakte Größe in seinem Leben, wie die Zahl Pi oder das Gravitationsgesetz. Wie gerne würde Harry jetzt mit ihm durch die Winkel vergangener Gemeinsamkeiten schweifen, um eine Ahnung zu bekommen, was das Wort Zukunft für sie beide bedeutete. Doch jetzt verschwand Bobby nach Amerika, auf einen anderen Kontinent, und bald würde ein ganzes Weltmeer zwischen ihnen liegen, Tausende von Kilometern.
»Mein Sohn Bobby«, nickte Harry. »Der größte Bewunderer Pablo Picassos.«
»Bist du immer noch beleidigt?«
»Jetzt reg dich nicht auf. Ich dachte nur, du könntest Kunst nicht ausstehen. Weil du mich nicht ausstehen kannst.«
Bobby wollte etwas erwidern, doch seine Mutter kam ihm zuvor. »Es ist normal, dass ein Sohn das Gegenteil von seinem Vater werden möchte. Weil er eigentlich keinen anderen Wunsch hat, als genauso zu sein wie er.«
»Und damit ich das begreife, muss er mir von Picasso vorschwärmen?«, fragte Harry. »Dabei bin ich mir gar nicht mal sicher, ob Guernica überhaupt ein richtiges Kunstwerk ist oder nur ein politisches Pamphlet.«
»Verstehst du denn nicht?«, sagte Laura, die fast die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Bobby hat mit seiner Begeisterung für das Bild nur versucht, dir näherzukommen. Und kann es dafür eine bessere Brücke geben als die Kunst?«
Harry schaute erst Laura an, dann Mathilde und schließlich Bobby, der sich unter seinem Blick vor Verlegenheit wand.
»Offenbar bin ich von Philosophen umzingelt«, brummte er und hob sein Glas. »Kommt, lasst uns den Champagner austrinken.«
Noch einmal stießen sie miteinander an. Harry musste schlucken, als Bobby ihm in die Augen sah. Hatten sie den Anfang geschafft? Als sie ihre Gläser geleert hatten, schickte Harry seinen Sohn zur Kasse.
»Sag dem Patron, er soll anschreiben.«
»Ja, ja, ich weiß«, grinste Bobby, »du hast hier Kredit.«
»Ich komme mit«, sagte Laura. »Du kannst doch kaum Französisch.« »Das musst du gerade sagen.« Zusammen verließen sie den Tisch.
»Ein hübsches Paar«, sagte Harry, als die beiden untergehakt zum Tresen gingen. »Fast ein Jammer, dass die junge Dame schon vergeben ist.«
Mathilde nippte an ihrer Schokolade und blickte den Rauchwölkchen von Harrys Zigarette nach, die in die Richtung der beiden entschwebten.
»Eins würde ich gerne wissen«, sagte sie. »Was hat sie, was wir anderen nicht haben?«
»Laura?« Harry zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, sie ist die einzige Frau, die den Panzer durchbrochen hat. Ich werde sie niemals betrügen.«
»Und der Rückfall
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