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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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an. Die Hitlerei ist vorbei, noch ehe du in Amerika bist! Anstreiche r – mehr sage ich zu dem Thema nicht mehr!«
    »Pass gut auf dich auf«, sagte Mathilde und streichelte Bobbys Gesicht. Obwohl sie mit den Tränen kämpfte, versuchte sie zu lächeln. »Mein kleiner Junge in New York! Ohne eine Menschenseele, die du kennst.«
    »Macht euch um mich keine Sorgen. Mein Chef hat mir ein Dutzend Empfehlungsschreiben mitgegeben. Aber ihr beide, ihr müsst hier weg! So schnell ihr könnt! Bevor es zu spät ist!«
    Noch während sie einander an den Händen hielten, knallten die Waggontüren zu. Plötzlich ein Pfiff, und stampfend und fauchend setzte die Lok sich in Bewegung. Harry und Mathilde traten von der Bahnsteigkante zurück und winkten. Eine Weile sahen sie noch das Gesicht ihres Sohnes, dann nur noch seine winkende Hand. Harry reichte Mathilde ein Taschentuch und nahm sie in den Arm. Als der Zug den Gleisen in die Kurve folgte, vergrub sie ihr Gesicht an seiner Brust.
    »Jetzt ist er fort«, sagte Harry, nachdem der letzte Waggon in der Ferne verschwunden war.
    Mathilde löste sich von seiner Brust. »Und du?« Tapfer putzte sie sich die Nase und wischte sich die Tränen ab. »Wirst du wenigstens in Paris bleiben, wenn du umziehst?«
    Harry schüttelte den Kopf.
    »Wo willst du hin?«
    Er deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang, wo Laura am Ende der Gleise wartete.
    »Alles, wonach ich mich sehne, ist, Paris hinter mir zu lassen und irgendwo mit ihr zu leben, wo es so was wie Heimat gibt.«
    »Ich dachte immer, Paris ist deine Heimat.«
    »Das dachte ich auch. Aber Paris ist nicht mehr die Stadt, in die ich mich damals verliebt habe. Paris hasst mich, und bevor ich anfange, Paris zurückzuhassen, haue ich lieber ab.«
    »Glaubst du, dass du das schaffst?«, fragte Mathilde und gab ihm sein Taschentuch zurück. »Ich meine, du und eine einzige Fra u …«
    Harry zuckte die Schultern. »Wenn die Welt uns läss t … Auf jeden Fall ist es einen Versuch wert.«
    Mit einem wehmütigen Lächeln blickte Mathilde zu ihm auf und strich ihm über die Wange. »Du bist und bleibst ein hoffnungsloser Träumer«, sagte sie. »Aber genau darum habe ich dich immer geliebt.«

Drittes Buch
    Traumzeit

Sainte-Odile-d’Ardèche
1938 – 1939

1
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    Heiß brannte die Augustsonne von einem fast schwarzblauen Himmel herab, die flirrende Luft roch nach Lavendel und Thymian, und in den Gräsern und Büschen zirpten Millionen von Zikaden. Wie ausgestorben lag Sainte-Odile im gleißenden Licht, ein verträumtes Dorf jenseits der Zeit. Eine Handvoll Häuser, sandfarben verputzt, duckte sich um eine Kirche und einen Friedhof, das ausgetrocknete, steinige Flussbett, das den Dorfplatz säumte, wurde von einer Hängebrücke überspannt, und dahinter, am anderen Ufer der Ardèche, ragte eine schrundige, zerklüftete Felswand in den Himmel empor, als wäre die Welt dort zu Ende.
    »Wo sind wir hier?«, fragte Laura und stellte ihren Koffer ab.
    Harry wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Geografisch in der Region Rhône-Alpes. Tatsächlich am Arsch der Welt. Ich bin vor Jahren mal durch Zufall hierher geraten. Ich dachte, das könnte das Richtige für uns sein. Aber was ziehst du für ein Gesicht? Bist du enttäuscht?«
    »Im Gegenteil. Ich staune nur, dass es so etwas überhaupt gibt.«
    Sie hatten den Bus, der die unbefestigte Straße von Avignon hierher gerumpelt war, eine Station vor dem Dorf verlassen, um das letzte Stück Weg zu Fuß zu gehen. Seit Paris lagen lediglich zehn Stunden Bahnfahrt hinter ihnen. Doch Laura hatte das Gefühl, als hätten sie in Wahrheit nicht nur ein paar hundert Kilometer hinter sich gelassen, sondern ganze Welten, die sie nun von ihrem früheren Leben trennten.
    War es wirklich noch keine vierundzwanzig Stunden her, dass sie den Schlüssel zu ihrer Wohnung in der Rue Jacob abgegeben hatten?
    »Grundkurs Sehen, Lektion eins«, sagte Harry und zeigte auf das schwarze Zypressenmeer im Tal, das sich in sanften Wellen zu wiegen schien, obwohl kein einziges Lüftchen wehte. »Was ist ein Wald? Antwort: Ein magischer Ort, ein Dickicht der Symbole. Ein gigantisches Fabeltier, ein übernatürliches Insekt. Ein Zeichenbret t …«
    Während Harry redete, verwandelte sich vor Lauras Augen die Landschaft in ein lebendes Bild. Versteinerte Arme griffen aus dem Pinienmeer nach dem glühenden Sonnenball, verschleierte Nymphen lauerten im Dunkeln auf Beute, vogelartige Wesen hockten in den Baumwipfeln und spähten ins Ta

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