Himmelsfern
Resultat, dass wir danach nichts mehr zu tun hatten und uns anschwiegen. Im Nebenzimmer hörten wir Corbin telefonieren, verstanden jedoch kein Wort. Beklemmung lag in der Luft. Ich spürte Marlons Unruhe und hätte so gerne etwas getan, um sie zu lindern.
»Ich muss zu ihm«, sagte er irgendwann und sah mich dabei an, als bäte er um Verständnis. »Ich glaube, er braucht mich jetzt. Er ist instabil und jeder Stress könnte die Verwandlung auslösen.«
Ich wärmte meine Hände an der heiÃen Teetasse. Ich brauchte ihn auch. Viel mehr als dieser grobe Kerl. Dass der muskulöse Corbin sich ungewollt in einen Raben verwandeln würde, fand ich ebenso wenig glaubhaft wie einen Lkw, der in einem Schuhkarton parkt. Doch ich nickte. Ob Corbin Marlon wirklich brauchte, wusste ich nicht, und es war mir, um ehrlich zu sein, auch egal. Aber ich spürte deutlich: Marlon brauchte Corbin. Er brauchte die Gewissheit, dass sein Bruder ihm verzieh.
»Kann ich dich so lange allein lassen, Noa? Geh in mein Zimmer oder mach dir im Wohnzimmer den Fernseher an, wenn du möchtest.«
Wieder nickte ich, blieb aber sitzen und hielt mich an meiner behaglich warmen Tasse fest, während er aufstand. Bevor er ging, berührte Marlon meine Schläfe, strich mir über die Wange. »Ich bin gleich zurück.«
Dann war ich allein und hatte zum ersten Mal Zeit, mir darüber klar zu werden, was in den letzten Stunden alles geschehen war. Ich weinte leise vor mich hin und schämte mich nicht einmal dafür. Es half.
Als ich etwas später die Küche verlieÃ, fiel mein Blick in Corbins Zimmer â die Tür stand einen Spalt offen. Ich wollte die beiden nicht beobachten, konnte aber nicht schnell genug wegschauen. Was ich sah, bestätigte Marlons Worte. Corbin hockte zusammengesunken auf dem Boden und zitterte wie Espenlaub. Marlon saà neben ihm und tat auf den ersten Blick nichts. Aber er war da. In der Küche hatte es den Anschein gehabt, als sei Corbin der Anführer. Doch durch den Türspalt offenbarte sich mir nun eine ganz andere Wahrheit: Marlon mochte jünger sein, schmaler und unerfahrener. Aber er war eindeutig der stärkere der beiden Brüder.
Ich ging in Marlons Zimmer, setzte mich auf sein Bett und schleuderte die Schuhe von mir. Ich war so erschöpft, dass ich mich hinterher nicht mehr daran erinnern konnte, mich hingelegt zu haben, ehe ich einschlief.
Mein Schlaf war unruhig, ich wurde wach, als Marlon hereinkam, lieà aber die Augen geschlossen. Er legte sich mit einem leisen Seufzen neben mich, kämmte mit den Fingern eine meiner Haarsträhnen glatt und bat wispernd um Verzeihung.
»Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste«, antwortete ich schläfrig. »War nicht deine Schuld.«
Wir schmiegten uns aneinander, Stirn an Stirn, und hielten uns im Arm. Atmeten uns gegenseitig den Sauerstoff weg. Und ein bisschen auch die Angst.
Am Abend brachte Corbin mich nach Hause. Marlons Arm ging es besser, aber abgesehen von ihm waren wir uns alle einig, dass er mit der Verletzung nicht Auto fahren sollte. Er lieà sich schlieÃlich sogar dazu überreden, die Nacht im Drachenhaus zu bleiben, was mich einerseits sorgte, weil er dadurch so weit weg war, und andererseits tröstete. Immerhin würde er nicht in der Gartenhütte schlafen â das Dach war ein Sieb. Doch mein Vater hatte heute keine Nachtschicht und ich wusste nicht, ob er Marlon erlauben würde, über Nacht zu bleiben. Nein, im Drachenhaus war er am sichersten.
Corbin saà schweigend hinter dem Lenkrad und ich gab die Versuche, Small Talk zu betreiben, schnell auf.
Als wir in mein Viertel einbogen, begann er unvermittelt zu sprechen und hielt sich keine Sekunde mit Belanglosigkeiten auf. »Du weiÃt, worauf du dich bei Marlon einlässt?« Er sah mich nicht an, achtete nur auf den Verkehr. »Mach dir keine Hoffnungen, dass er die Verwandlung aufhalten kann. Ihr habt Zeit bis zum Vollmond im August, dann ist Sense. Schicht im Schacht.«
Ich fühlte mich in Corbins Gegenwart immer besser, wenn ich meine Gefühle verbarg und die Kühle, Unnahbare spielte. »Schon klar.«
»Und es macht dir nichts aus?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dafür muss man sehr stark sein.«
Nein. Einfältig. Denn der Gedanke, Marlon würde unwiederbringlich fort sein, war so unvorstellbar, dass meine Fantasie dafür nicht
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