Himmelsfern
erstaunt. »Seit wann das denn?«
Oma verrieb an der oberen Bildkante Orange mit einem satten Violett, sodass die Farben ineinander überglitten. Erst dann begrüÃte sie mich. »Gefällt es dir?«
Ich betrachtete das Bild. Ein Sonnenuntergang aus Wachsmalkreide hinter einem von Hügeln umgebenen Dorf. An den Stellen, die filigranere Arbeit erforderten, wirkte es ein wenig unbeholfen, aber die Farben gefielen mir. Noch besser gefielen mir Omas bunt verschmierte Finger. Selbst ihr Kinn zierte ein violetter Streifen. Zu meiner Beruhigung fand sich auf dem ganzen Bild nicht ein einziger schwarzer Vogel.
»Es ist schön. Wie kommt es, dass du plötzlich malst?«
»Sie haben uns einen Kurs angeboten. Eine Volkshochschullehrerin kommt zweimal die Woche. Beschäftigungstherapie.« Sie seufzte. »AuÃer mir macht leider kaum jemand mit. Diesen alten Schachteln hier ist wirklich nicht zu helfen. Sie jammern ständig, dass sie nichts zu tun haben, aber etwas Neues zu lernen, kommt auch nicht infrage.« Sie verstellte ihre Stimme. »Dazu sin mer zu alt. Datt lohnt sich doch für uns nett mehr. Eh wir malen können, sin mer doch schon tot!«
Ich gab einen abfälligen Laut von mir. »So ein Quatsch. Gerade die letzten Jahre muss man doch, soweit es geht, genieÃen und nutzen, um alles auszuprobieren, was man noch nicht kennt. Du machst das schon richtig, Oma.«
»Man muss immer alle Zeit nutzen, die man hat«, erwiderte sie, die Stimme von Schwermut verschleiert. »Das alles hätte ich lieber mal vor dem Schlaganfall begriffen. All die verschenkten Jahre.« Ihr Blick wandte sich nach innen.
Ich hatte geahnt, dass sie es inzwischen bereute, früher allein für ihre Arbeit gelebt zu haben, aber es bestätigt zu bekommen, machte mich traurig.
»Du machst das besser, nicht wahr, Noa? Du wirst jeden Tag deines Lebens nutzen und das machen, was du für richtig hältst, egal was die anderen sagen. Du musst keinem gefallen und niemandem etwas beweisen, nur dir selbst.«
»Darf ich dich etwas fragen, Oma?« Ich setzte mich auf die Sesselkante. Sie ahnte nicht, wie gut mir ihr Rat tat, welche wichtigen Entscheidungen sie mir damit erleichterte. »Wenn man weiÃ, dass etwas keinen Bestand hat und zum Scheitern verurteilt ist ⦠kann es trotzdem gut sein?«
»Na sicher doch, Kind. Denk mal an Urlaub. Die meisten Leute nennen ihn die schönste Zeit im Jahr, auch wenn sie von vorneherein wissen, dass er nur wenige Wochen dauert.«
»Und Fernweh nach sich zieht«, sinnierte ich.
»Ach!« Sie winkte ab und wischte sich Speichel aus einer Kinnfalte. »Wenn es nicht auch ein bisschen im Herzen wehtut, ist es die Sehnsucht einfach nicht wert.«
Ich dachte über ihre Worte nach, während ich mit dem Bus zur Bandprobe fuhr. Mit der U-Bahn wäre ich schneller gewesen und hätte nicht zweimal umsteigen müssen, aber allein traute ich mich noch nicht. Ich kam ein paar Minuten zu spät und zu meiner Ãberraschung erwartete mich Dominic beim Sportplatz.
»Lukas hat mir verraten, dass du kommen würdest, da dachte ich, ich schau mal vorbei«, begrüÃte er mich. »Oft bekomme ich dich ja nicht mehr zu sehen.«
»Armes Hascherl!« Ich zerzauste sein Haar, als wäre er ein kleiner Junge, und rief Lukas und den anderen Musikern, die neben dem Vereinshaus ihre Instrumente aufbauten, ein Hallo zu.
Sie schoben Verstärker hin und her, reichten sich Stromkabel durchs Fenster und stimmten ihre Gitarren. Tatjana, das einzige Mädchen der Band â eine zierliche Rothaarige mit raspelkurzem Haar und Tätowierungen, die sich um ihren Hals schlangen â, lud die Einzelteile ihres Schlagzeugs aus ihrem Kleintransporter und baute diese mit routinierten Handgriffen zusammen.
Ich positionierte mich in der Nähe der Musiker und bereitete die Poi vor, indem ich sie nacheinander ins Petroleum tauchte und abtropfen lieÃ. Dominic fackelte die Flecken auf dem Asphalt ab. Seine Miene verfinsterte sich, als Lukas näher kam. Die beiden hatten eine stillschweigende Vereinbarung, nicht mehr als die nötigsten Worte zu wechseln â diese aber in respektvollem Ton. Dominic konnte jedoch nicht einfach vergessen, dass er von Lukas früher jahrelang drangsaliert worden war, bis er endlich den Mut gefunden hatte, sich zu wehren. Dom mochte Lukas nicht, das war so und das blieb so. Nichtsdestotrotz
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