Himmelsfern
zu Olivier gehören, da warst du die Einzige, die mir geglaubt hat. Das ist also dein Vertrauen wert?«
Emma schluckte und ihr Blick streifte den toten Vogel. Sie warf sich herum und rannte aus dem Zimmer. Ich hörte eine Tür zuschlagen.
Corbin stöhnte und lieà sich an der Wand entlang auf den Boden rutschen. »GroÃer Mist!«, grummelte er, so wie andere Leute »GroÃer Gott!« sagen.
»Sie haben Emmas Mutter gejagt«, erklärte Marlon und betrachtete dabei meine Knie. »Emmas Eltern sind nicht beide Harpyien, bloà ihre Mutter. Es ist selten, dass Mischlingskinder das entsprechende Gen erben, aber es kommt vor. Ihre Mutter hat sich nach ihrer Geburt nicht zurückverwandelt wie unsere Eltern, sondern ist bei Emma und ihrem Vater geblieben. Sie wollte erst zu den Vögeln zurückkehren, wenn Emma mit ihr kommen würde. Die Huntsmen haben ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, dazu gebracht, Emma eine Freundschaft vorzuspielen. Ãber dieses Kind haben sie die Familie ausspioniert. Es kam zum Angriff. Emma konnte nur durch Zufall und groÃes Glück entkommen. Ihre Eltern ⦠haben es nicht geschafft.«
Wie schrecklich! Ich stellte mir vor, mich würde ein Freund auf so gemeine Weise verraten. Vermutlich wäre ich ebenso misstrauisch wie Emma. Dennoch gab ihr das nicht das Recht, mich schon wieder zu bedrohen.
»Sie hat dir tatsächlich geglaubt«, fuhr Marlon fort. »Umso schlimmer traf es sie, als ihr der Verdacht kam, du hättest mich vor die Flinten der Jäger gelockt.«
»Aber das habe ich nicht!«
»Marlon weià das«, meldete sich Corbin zu Wort. Seine Stimme klang belegt. Marlon runzelte die Stirn. »Emma und ich hatten Zweifel. Marlon nicht, aber er hatte keine Beweise für deine Aufrichtigkeit. Wir mussten dich auf die Probe stellen. Bei uns herrscht eben so etwas wie Demokratie. Wir haben ihn überstimmt.«
»Es war nie die Rede von einer Pistole«, knurrte Marlon.
Theoretisch war das alles durchaus nachvollziehbar. Praktisch aber randalierten in mir Angst und verletztes Vertrauen. Dass Marlon mich in diese Falle gelockt hatte, konnte ich ihm nicht verzeihen.
Er erhob sich, trat zu seinem Bruder und berührte dessen Stirn. Sie wechselten Blicke, die ich nicht verstand.
»Schlimm?«, fragte er.
Corbin brummte etwas, was wohl Nein heiÃen sollte.
Ich sah genauer hin. Seine Haut war aschfahl, fast bläulich, seine Augen glänzten zu sehr. Mir fiel auf, wie schnell sich seine Brust hob und senkte. Es musste einer dieser ominösen Verwandlungsanfälle sein, von denen Marlon gesprochen hatte.
»Du hast Fieber«, murmelte Marlon. »Meine Schuld.«
Natürlich, er hatte ihn geschlagen. Möglicherweise löste Schmerz die Anfälle aus. Ich fühlte mich hilflos, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Nein, genau genommen wollte ich überhaupt nichts tun und erst recht nicht mehr helfen. Den Karren hatten sie selbst in den Dreck gezogen. Ich verschränkte die Arme.
Corbin stieà ein atemloses Schnauben hervor. »Red keinen Mist, Marlon! Hilf mir auf. Ich muss ins Bad. Mir wird schlecht.«
Marlon fasste seinem Bruder unter die Achseln, zerrte ihn auf die Beine und stützte ihn. Er warf mir über seine Schulter einen Blick zu, eine stille Bitte lag darin. Vielleicht auch ein Befehl. Schwer, den Unterschied auszumachen im Gesicht eines Kämpfers.
Er wollte, dass ich wartete. Aber worauf? Auf weitere Lügen? Darauf, erneut getestet, beschämt und verletzt zu werden?
Und wofür das Ganze? Für eine Beziehung, die im besten Fall noch zwei Wochen andauern würde. Dann war die erste Vollmondnacht im August.
Ich wartete, bis die beiden im Badezimmer verschwunden waren.
Dann lief ich davon.
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Die Sache mit der Ehrlichkeit
Der Tag verging. Ebenso die Nacht.
Die Welt tat so, als sei nichts geschehen, aber mir konnte sie nichts vormachen. Ich wies ab, was sich abweisen lieÃ. Dominics Besuch, Rosalias E-Mail, Omas Anruf. Alles andere ignorierte ich. Meinen Vater zum Beispiel, meinen knurrenden Magen, meine Poi sowie den Drang zu heulen. Ich verbarg mich in meinem Zimmer und gab vor, nicht erreichbar zu sein. Für niemanden. Ich wollte allein sein mit meiner Wut, aber nicht mal die blieb mir treu. Sie verlieà mich und zurück blieben traurige Schwermut und ein Sehnen, für das ich mich am liebsten in die Psychiatrie gesteckt
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