Himmelsfern
kommen. Ich fragte mich, ob Corbins Sinne sich schon dem Vogeldasein angepasst hatten. Wenn ja, dann hörte er es sicherlich auch. Der Gedanke tröstete mich ein wenig.
Irgendwann öffnete Corbin die Tür, sodass Marlon ihm fast entgegengefallen wäre. Die beiden sahen sich an. Corbin wieder gefasster, Marlon wütend. Er formte etwas mit den Lippen, ich konnte es nicht verstehen.
»GroÃer Mist«, meinte Corbin. »Ich wünschte, ich könnte es ändern. Ich tue, was ich kann.«
»Das wird nicht reichen«, entgegnete Marlon.
»Ich werde mich bessern.« Corbins Stimme klang feierlich, wie bei einem Schwur. »Ich war ein blöder Bruder, ein mieser Mensch und auch als Freund habe ich nichts getaugt. Aber ich werde ein toller Vogel sein.«
Marlon nickte und versuchte sich an einem Grinsen. Er wandte sich ab, ging zu seinem Zimmer und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Du warst kein blöder Bruder, und das weiÃt du. Du bist mein einziger Bruder. Und mein Freund. Mein bester. Denk daran, bevor du Mist baust!«
Corbin lächelte schief.
Marlon tippte sich zu einem altmodischen Abschiedsgruà an die Schläfe und verharrte in dieser Bewegung.
In diesem Augenblick begriff ich, was er dachte. Es war so deutlich, als hätte er zu mir gesprochen. Er fürchtete, Corbin würde die Nacht nicht überstehen. Und da war noch mehr. Er dachte: Ich gehe nicht ohne dich. Wenn du mich alleinlässt, werde ich als Mensch sterben. Wir sehen uns im Himmel, so oder so.
In dieser Nacht bekam ich zum ersten Mal wirklich eine Ahnung davon, was mir bevorstand.
Ich würde Marlon verlieren.
Es war so deutlich zu spüren, weil ich mich ganz fest an ihn klammerte und ihn doch nicht erreichte. Er war weit weg. Seinen Körper festzuhalten änderte daran nichts. Ich schwitzte, eng an seinen warmen Rücken gepresst, und suhlte mich bewegungslos in der Furcht, dass auch seine Körpertemperatur bereits anstieg. Irgendwann zog ich mein T-Shirt aus. Nicht um ihn zu erregen, er nahm mich ohnehin kaum wahr, sondern weil mir so heià war. Ich hegte den kleinen Wunsch, er würde reagieren, als ich meine Brust an seinen Rücken schmiegte, aber er atmete nicht einmal tiefer. Er blieb einfach liegen, gab vor zu schlafen. Diesmal schauspielerte er erbärmlich. Er schlief die ganze Nacht nicht.
Wieder fuhren wir von einem Ort zum nächsten und suchten nach Steinen. Marlon berührte sie, drückte sich an sie, boxte dagegen. Nichts. Immer stärker wurde der grausame Verdacht, dass die Harpyien Corbin und ihn vergessen hatten. Ich spürte, wie sein Körper sich stündlich mehr verspannte, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, es mich nicht merken zu lassen.
»Rede endlich mit mir«, forderte ich ihn auf, als er mit Eis und zwei Getränkedosen, die er an einem Kiosk im Stadtpark gekauft hatte, auf mich zukam.
Wir setzten uns auf eine akkurat gestutzte Wiese, gleich unter ein Schild, das das Betreten der Grünflächen für verboten erklärte. In diesem Park war ohnehin alles verboten. Er wurde nur gebraucht, wenn die jährlich neu erscheinenden Ansichtskarten der Stadt fotografiert wurden. Dafür wurde er sogar abgesperrt, damit kein langes Gesicht die Schönwetteraufnahmen trübte und niemand seinen Müll vor die Kameralinse warf.
Marlon kühlte seine lädierten Fingerknöchel mit Vanilleeis und seufzte. »Man muss die Zeit nutzen â jeden Tag, den man hat. Daran glaube ich. Und was tue ich? Ich verschwende deinen Sommer. Was wir hier tun, ist vollkommen vergeblich.«
Ich nahm einen Schluck. Es hatte keinen Sinn, Marlon zu widersprechen, das nahm er sowieso nicht ernst, also lieà ich mir mit meiner Antwort Zeit. »Jemandem zu helfen, ist nie vergebens«, sagte ich schlieÃlich.
»Auch nicht, wenn man scheitert?«
»Besser man scheitert gemeinsam als allein.«
Er leckte sich das Eis von der Faust und sah in den Himmel, der sich harmlos gab mit seinen weiÃen Federwölkchen vor babyblauem Grund. »Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ich würde dir gerne eine schöne Woche bieten, wenn du für mich schon all deine Freunde vernachlässigst.«
»Die verstehen das«, gab ich gedankenlos zurück. Das war nicht ganz richtig, sie verstanden es eigentlich nicht und maulten, weil ich keine Zeit für sie hatte. Aber wie sollten sie auch, konnten sie doch nicht wissen, dass Marlon in nicht
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