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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Augapfel nicht entfernen ließen.
    Gern hätte ich etwas Tröstliches gesagt, denn ich spürte durch das Schweigen hindurch, dass Marlon litt, aber wenn ich Ich liebe dich gesagt hätte, wäre unweigerlich ein trotzdem mit herausgerutscht, und damit hätte ich ihm erst recht wehgetan. Andererseits wär das seine Schuld gewesen und nicht meine.
    Entgegen unserer Art, nach der ich immer zu viel Falsches sagte und Marlon gar nichts, überlegte ich still, bis Marlon das Wort ergriff.
    Â»Magpie, du fehlst mir gerade mehr, als ich es bis eben überhaupt für möglich gehalten hätte.«
    Ich setzte mich aufs Bett und zog die Decke über meine Knie. »Ich bin bei dir. In Gedanken.«
    Â»Das reicht nicht.«
    Ich weiß. Bald wird es aber reichen müssen. »Wir sehen uns morgen.«
    Als ich allein in meinem Bett lag, um das Verständnis meines Vaters nicht überzustrapazieren, kam mir erstmals der Gedanke, was geschehen würde, wenn wir die Hinweise nicht fänden. Er traf mich während des Eindösens, als Vernunft und Verstand schon schliefen, aber ein Teil meines Bewusstseins – offenbar der egomanische Rest von mir – noch anwesend war. Er flüsterte mir zu, dass Marlon ein Jahr bliebe, wenn unsere Suche erfolglos verlaufen würde.
    Ich schrak hoch. Mein Herz raste, als hätte mich jemand bei etwas Verbotenem erwischt. Ich schämte mich. Es war wahr – Marlon würde dann ein weiteres Jahr bleiben. Und er würde es bestimmt auch schaffen, redete ich mir ein. Corbin war zwei Jahre älter als er und hielt bis heute durch. Doch Corbin – und das war der Grund, warum das Hoffnungsflackern in meinem Kopf mich so beschämte – würde in diesem Fall sterben.
    Ich lag lange wach in dieser Nacht, und sobald ich einschlief, quälten mich angsterfüllte Träume, die wie Wasser zerrannen, wenn ich aufwachte. Es gelang mir nicht, die Bilder und Gefühle festzuhalten. Trotzdem blieb so viel von ihnen in meinem Bewusstsein zurück, dass meine Angst ins Unerklärliche stieg. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass etwas vor sich ging, da draußen in der Dunkelheit. Ich glaubte, die Raben schreien zu hören. Doch als ich das Fenster öffnete und kühle Nachtluft mich umfing, vernahm ich nichts als das immerwährende Pochen der nahen Stanzerei. Die Stadt war so still, wie sie nur sein konnte, und kein Rabe zeigte sich mir. Sie waren vor vielen Tagen verschwunden, ihre Schreie nichts als Träume.
    Dass meine nächtlichen Ängste nicht unbegründet waren, bestätigte sich am nächsten Morgen. Mein Handy klingelte – ich schrak zusammen, als Emma sich meldete. Sie klang, als wäre sie stundenlang gerannt. Ihr Atem war rau und hastig.
    Â»Du musst herkommen!«
    Â»Was ist passiert?« Ich schrie beinahe. »Ist etwas mit Marlon?«
    Emma japste etwas. Ich verstand nur ein Wort: »Ebony!«
    Marlons Schwester. Die Harpyie. Sie hatte ihn nicht vergessen. Sie würde ihn mit sich nehmen.
    Â»Will sie ihn … holen? Emma, sag was! Will sie ihn holen?«
    Nervenzerreißendes Schweigen. Dann: »Ja.«
    Â»Lass ihn nicht gehen! Ich komme, so schnell ich kann.«
    Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller, weil das Drachenhaus mit dem Bus schwer zu erreichen war, und trat in die Pedale. Ob ich dadurch Zeit sparte, wusste ich nicht, doch die Vorstellung, an einer Haltestelle stehen und tatenlos auf den Anschlussbus warten zu müssen, erfüllte mich mit Grauen. Und die körperliche Anstrengung lenkte mich ein wenig ab. Solange ich das Brennen in den Oberschenkeln spürte, wusste ich, dass ich noch nicht vor Panik verrückt geworden war. Sie konnte ihn nicht einfach mitnehmen – er würde mich nicht ohne Abschied verlassen!
    Schweißnass stand ich schließlich vor dem Haus und hatte Mühe, die richtigen Tasten auf meinem Handy zu drücken. Emma ging gar nicht erst ran, sie kam direkt zur Tür und öffnete. Ihr Gesicht war gerötet, besonders an den Lidern. Hatte sie geweint?
    Â»Sie sind oben. Sei vorsichtig, rede am besten nicht mit ihr. Sie ist … wirklich seltsam.«
    Mir wurde schwindelig vor Erleichterung.
    Wir gingen die Treppe hoch; ich wäre zwar lieber gerannt, aber Emma hielt mich zurück und erzählte von Ebonys Ankunft. »Die Jungs haben noch geschlafen, als sie kam. Marlon war in der Nacht unterwegs gewesen und hat nach Hinweisen

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