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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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er sie mir vorlesen. Worte, die ich nicht hören sollte, in einer Sprache, die ich nicht kannte und trotzdem verstand.
    Ich kenn nicht mal deinen Namen , hallte es aus den Boxen, ich hab dich nie geliebt, ich hab nur grad vergessen zu vergessen , dass es dich gibt .
    Es war mir nicht mehr wichtig, was in dem Brief stand. Entscheidender war, was er in mir bewirken würde. Ich wusste es, ohne ein Wort gelesen zu haben. In meinem Inneren glühte keine Spannung, sondern etwas völlig anderes. Mir schauderte, als mir klar wurde, dass ich offenbar doch ein größeres Problem hatte als zunächst befürchtet.
    Denn irgendwann musste mir mein Verstand entglitten sein, der üblicherweise mein Herz so sorgsam verteidigte. Schutzlos hatte es eine Dummheit begangen. Ich kann bis heute nicht sagen, wann es geschehen war, aber ich werde nie den Moment vergessen, als es mir mit der Intensität eines Beils im Schädel bewusst wurde.
    Falsch, falsch, falsch. Und doch nicht mehr zu ändern.
    Ich hatte mich in Marlon verliebt.
    Eine Weile saß ich im Dunkeln und sah hinaus. Hin und wieder glaubte ich, ein Licht bei Marlons Hütte aufflammen zu sehen, doch es war immer schneller verschwunden, als ich mich fragen konnte, ob ich es mir nur eingebildet hatte. Ich wagte nicht, eine Lampe einzuschalten. Dann würde er meine Silhouette sehen, jede Bewegung, die ich machte. Aber so konnte ich den Brief nicht lesen. Ein Dilemma, aber mein kleinstes. Innerlich erstellte ich Listen mit dem Für und Wider, ihn zu mögen.
    Pro: Er sah verdammt gut aus.
    Herrgott, war das oberflächlich, das musste ich streichen!
    Noch mal von vorn.
    Pro: Er beschützte mich. Contra: Er verriet mir nicht, vor wem oder was.
    Pro: Er hatte mich befreit. Contra: Und entführt.
    Pro: Er war humorvoll – und verspottete mich, schlagfertig – und ein Schläger, klug – und berechnend.
    Pro: Er faszinierte mich. Contra: Er machte mir Angst. Wobei das nicht mehr ganz richtig war, an diesem Abend hatte ich glatt vergessen, mich vor ihm zu fürchten.
    Und Stephan Oliviers Warnung? Ach, was konnte ich darauf schon geben? Bis auf die unerfreuliche Tatsache, dass ich dem Typen mein Leben verdankte. Verdammt!
    Irgendwann kapitulierte ich. Ich schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Dann kramte ich meine Taschenlampe hervor, setzte neue Batterien ein und verkroch mich trotz der Affenhitze mitsamt dem Brief unter meiner Bettdecke. Bang vor Erwartung richtete ich den Lichtstrahl auf die Zeilen.
    Zunächst fiel mir die steile und eckige Schrift auf. Nachtschwarze Tinte, von einem Füller mit breiter Feder aufs Papier gebracht und an manchen Stellen verwischt. Er war Linkshänder, das hatte ich schon vermutet. Dann entdeckte ich die T und D, die er größer machte als die anderen Buchstaben. Erst auf den dritten Blick bemerkte ich, dass Marlon mir keinen Brief geschrieben hatte.
    Sondern eine Geschichte.
    Als Kind hatte Brijan sich gewünscht, all sein ungewolltes Sehnen möge sich in seinem Herzen sammeln, damit er sich die Brust aufschlitzen, das Herz herausreißen und es ins Meer werfen konnte. Diese Vorstellung war angenehmer als die Aussicht, auf ewig mit dem Sehnen zu leben. Das flüsternde Locken ließ ihn von innen heraus verdorren, Tag für Tag ein wenig mehr.
    Er war ein kränkliches Kind gewesen, sein Körper muskulös und stark, doch seine Haut zu dünn, um das Fleisch vor den beißenden Sonnenstrahlen zu schützen. Die Hitze brannte in jedem Sommer alle Kraft aus seinen Gliedern. Wenn die Schultern, Wangen und Nasenrücken der anderen Kinder sich röteten, warf seine Haut Blasen. Selbst das Brunnenwasser, das er literweise die Kehle hinabstürzte, half nichts, wenn er in Panikzustände verfiel und fürchtete, zu Kalk zu vertrocknen. Er spürte, wie sich mit jedem Atemzug mehr Staub in seinen Lungen ablagerte. Staub, an dem er eines Tages ersticken würde. Er hätte das Atmen aufgegeben, wenn es ihm möglich gewesen wäre.
    Die Menschen in seinem Dorf wichen ihm aus, gingen ihm aus dem Weg, denn sie spürten, dass er nicht zu ihnen gehörte. Auch er spürte, dass er nicht zu ihnen gehörte, darum ging er ihnen aus dem Weg und wich ihnen aus. Kreise zeichneten seine Wege, permanente Umwege.
    Sie gaben ihm einen Namen, um festzuhalten, dass er anders war. Durch den Namen unterschied er sich von ihnen und war somit keine Gefahr für ihre Ordnung, in

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