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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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geschrieben, wohl weil sich jeder Teenager eine solche Mutter wünscht. Oder etwa nicht?
    Am Nebentisch schwoll Unruhe an. Eine junge Frau saß dort mit zwei etwa fünfjährigen Zwillingsmädchen, sie trugen kurze Latzhosen und Kopftücher in Hellblau und Mintgrün, die sie wohl vor der Sonne schützen sollten. Eins der Mädchen, Miss Mintgrün, begann zu wüten, da es das bestellte Erdbeereis plötzlich nicht mehr wollte, sondern lieber Schokolade wie Miss Hellblau. Meine Mutter sprach laut gegen das schrille Kreischen an, erzählte irgendein Gerücht über einen Schauspieler in meinem Alter, den sie »zwar noch ein paar Jahre auf die Weide stellen würde«, aber »grundsätzlich schon mal heiß« fand.
    Als Miss Mintgrün ihre Eiswaffel auf die Erde warf und wie eine Sirene zu heulen begann, wandte sich meine Mutter kurzerhand der Bedienung zu, bestellte eine weitere Eistüte – »Schokolade, bitte flott, Fräulein!« – und drückte sie dem Kind kurz darauf mit einem »Jetzt ist aber Schluss« in die Hände. Zufrieden drehte sie sich wieder in meine Richtung und schwärmte übergangslos von ihrem Hollywood-Hengstfohlen. Hinter ihrem Rücken bemerkte ich den leeren, fassungslosen Blick der Zwillingsmutter, deren Versuch, auf Miss Mintgrüns Wutanfall mit ruhiger Konsequenz zu reagieren, gerade in einem Schokoladeneis versumpfte. Und plötzlich begriff ich.
    Ich begriff, warum Mama nur oberflächlich nach Marlon gefragt und Papa nichts davon gesagt hatte. Warum mein Wegbleiben über Nacht sie nicht nachhaltig gestört hatte. Warum sie nicht mit mir sprach, sondern nur quatschte, und sich nie Sorgen um mich machte. Ich hatte angenommen, sie würde mir vertrauen, gedacht, sie würde mich für vernünftig halten. Aber das war Blödsinn. Bullshit. Das alles war einfach nicht länger ihre Aufgabe.
    Ich hatte gar keine Mutter mehr.
    Sie war mit meinem Bruder gestorben. Sie hatte lediglich einen Rest von sich zurückgelassen und diesen mit unterschiedlichen Häkchen an einem alten Leben befestigt, das ihr nicht mehr passte. Wie ein Kleidungsstück, das längst zu eng ist, doch man behält es der Erinnerungen wegen im Schrank. Ich war eins dieser Häkchen. Vermutlich ein stabiles, denn ich zweifelte nicht an ihrer Liebe, vielleicht war ich sogar ein reißfester Karabinerhaken. Aber nicht mehr ihr Kind. Schon lang nicht mehr. Vermutlich hatte es mir deshalb auch so wenig ausgemacht, dass sie ausgewandert war.
    Diese Erkenntnis änderte nichts. Wir plauderten weiter, diskutierten über das aktuelle Album von Lady Gaga, wobei ich nachplapperte, was ich bei meinen Klassenkameraden aufgeschnappt hatte, denn ich mochte ihre Musik nicht. Ich ließ mir meine Gedanken nicht anmerken, nur mein Milchshake glitt mir plötzlich salzig durch den Hals, als würde ich Tränen hinunterschlucken.
    Als es für Sybille Zeit war, zum Flughafen aufzubrechen, verabschiedete ich mich, indem ich die Luft neben ihren Wangen küsste. Sie bemerkte nicht einmal den Unterschied.
    Am nächsten Morgen erwachte ich vor dem Tag. Es war nicht einmal halb sechs, fast noch dunkel draußen, aber der Versuch, mich umzudrehen und weiterzuschlafen, misslang. Meine Beine wurden unruhig und ich wälzte mich so lange herum, bis ich mich in der Decke verheddert hatte. Schließlich stand ich auf und öffnete das Fenster. Über den Gärten hing dichter Nebel, aus dem nur die Baumwipfel herauslugten. In der Kastanie nahe meinem Fenster hockten die Raben. Selten sah man alle vier gemeinsam. Der größte saß mit Spot – den ich wegen des winzigen hellgrauen Flecks auf der Brust so genannt hatte – auf einem Ast und sah zu mir herüber. Die beiden mochten sich, ich sah sie oft zusammen. Etwas weiter abseits pedikürte Suzie ihre Krallen mit dem Schnabel. Meine Biologiekenntnisse waren nicht überragend, ich hatte ehrlich gesagt keinen Schimmer, ob Suzie wirklich ein Weibchen war. Aber sie verbrachte immer viel Zeit mit der Gefiederpflege und manchmal hatte ich den Eindruck, sie würde in Fensterscheiben und Pfützen den Sitz ihrer Federn überprüfen. Klischee, lass nach, aber ich glaubte fest daran, dass sie ein Rabenmädchen war. Gerade landete Pinsel neben Suzie. Er hatte sich jedoch einen Platz zu nah an der Astspitze ausgesucht. Der Ast bog sich durch, bis Pinsel schließlich in der Waagerechten

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