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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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hing – krampfhaft klammerte er sich mit Krallen und Schnabel fest. Suzie krächzte erbost auf, als der ganze Ast sich bedrohlich senkte, und die anderen beiden Raben sträubten verärgert das Gefieder. Ich musste lachen und Pinsel gab auf. Er suchte sich einen neuen Ast und begann nach der Landung sofort, an diesem herumzuknabbern. Er riskierte keinen Blick in die Richtung der anderen oder zu mir, als wäre ihm die Beinahe-Bruchlandung peinlich. Ich fragte mich, ob er unter seinen schwarzen Federn rot wurde.
    Die feuchte Morgenluft führte eine verlockende Frische mit sich und lockte mich hinaus ins Freie. Mein Blick fiel auf die an der Heizung hängenden Feuer-Poi, die ich nun schon seit gut zwei Wochen nicht mehr angezündet hatte. Ich strich die Kette entlang und über die schweren, rauen Kevlar-Heads. Kevlar sieht aus wie die Sisal-Ummantelung eines viel genutzten Kratzbaums. Er hinterließ ein wenig Ruß auf meinen Fingern. Der Geruch mag andere an eine Diesel-Zapfsäule erinnern, bei mir verursacht er eine angenehme Hitze im Magen. Fast wie Hunger.
    Das Feuer wollte tanzen.
    Gegen Mittag – vorher stand Dominic in den Ferien niemals auf – wäre es zu heiß zum Üben. Aber jetzt war die Temperatur ideal.
    Ich wollte tanzen!
    Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hielt ich schon einen Eimer in der Hand und hatte alle Utensilien darin verstaut. In Windeseile war ich angezogen und aus dem Haus. Musik aus meinem MP3-Player begleitete mich auf dem Weg am Kanal entlang. Die Stadt schien noch zu schlafen, doch an den Ufern pulsierte in diesen Morgenstunden das Leben. Ich sah Tauben, Finken, Amseln und sogar ein Eichhörnchen über den Asphalt huschen. Mein Ziel war das Kiesufer, der einzige Ort, an dem man ans Wasser herandarf.
    Dort angekommen, nahm ich all mein Equipment aus dem Eimer, füllte diesen mit Wasser und befeuchtete ein Handtuch und mein Kopftuch. Ich hatte die Poi noch nie angezündet, ohne jemanden dabeizuhaben, der notfalls eingriff, wenn es brenzlig wurde. Aber auf dem taufeuchten Kies und mit einem Eimer Löschwasser neben mir fühlte ich mich sicher genug. Ich band mir die Haare im Nacken zusammen und schlang das Kopftuch darüber. Auf Wangen, Stirn und Hände gab ich eine stark fettende Creme, die Verbrennungen verhindern würde, sollte ich patzen. Dann drehte ich das Gurkenglas auf, in dem ich das Petroleum aufbewahrte, und tauchte erst den einen, dann den zweiten Poi-Head hinein. Sobald keine Blasen mehr aufstiegen, zog ich sie wieder heraus – die Kevlar-Umwicklung hatte nun ausreichend Petroleum aufgesogen. Während die Heads abtropften, kontrollierte ich meine Kleidung, steckte den weiten Bund meines T-Shirts in die Hose und die Hosenbeine in meine Socken. Das sah albern aus, aber ich hatte schließlich schon mal versehentlich meine Hose angezündet. Optik war zweitrangig – ich war ohnehin allein. Ich suchte auf dem MP3-Player nach einem passenden Lied. Mir stand nicht der Sinn danach, eine Choreografie zu üben, heute war mir nach Freestyle.
    Der Schriftzug Green Day: Wake me up when September ends wanderte über das Display. Der Song war eigentlich zu ruhig – schwang man die Poi nur langsam, bestand weniger Spannung auf den Ketten und damit größere Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Aber er passte perfekt zur Stimmung an diesem Morgen. Ich strich ein Streichholz über die Reibefläche an der Schachtel, sog den Schwefelduft tief ein und hielt das Feuer mit zitternden Fingern an die getränkten Heads. Ich war kein ängstlicher Mensch, doch wenn ich die Poi entzündete, in dem Moment blieb mein Herz jedes Mal fast stehen. Das Feuer loderte heftig auf, spie etwas Ruß in die Luft und fraß sich ins Innere der Heads. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit waren sie nicht ganz trocken, es knisterte und rauchte. Sie waren wie zwei kleine, feuerspeiende Drachen, meine Poi, und wie vor jedem Tanz hatten sie auch heute furchtbar schlechte Laune. Mein Spiel mit ihnen war und blieb gefährlich. Das konnte ich erst vergessen, wenn ich loslegte und die Faszination schwerer wog als die Furcht, mich zu verbrennen.
    Ich schob die Finger in die Lederschlaufen, die von der häufigen Benutzung ganz weich geworden waren, und begann mit einfachen Drehungen, um das überschüssige Petroleum loszuwerden. Es dauerte eine Weile, bis ich die Swings der langsamen Musik angepasst hatte, doch dann

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