Himmelsschwingen
Beschütze die Schwachen. Irgendwas. Tu, was du willst, aber lass mich in Ruhe!« Damit lösten sich seine Konturen auf, und er wurde selbst für sie unsichtbar. Es ist nicht gut für dich, wenn du in meiner Gesellschaft gesehen wirst , hörte sie seine Gedanken so leise, als trüge der Wind sie von weit her zu ihr herüber. Dann war er fort.
Wenn sie es nicht schon gewusst hätte, wäre dies der endgültige Beweis gewesen, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Du lieber Himmel, offenbar wollte er sie nicht in sein emotionales Chaos hineinziehen. Dafür ist es zu spät. Sie steckte längst mittendrin.
Die Sache mit den Schuldscheinen konnte sie geradebiegen, sofern Samjiel die Bar und Quaid in Zukunft mied. Wenn aber sein wahres Problem gelöst werden sollte, musste er auch selbst etwas dazu beitragen. Sie hatte gehofft, ihm schon ein bisschen auf die Sprünge geholfen zu haben. Nun war sie sich nicht mehr sicher.
Immerhin, noch war nicht alles verloren. Die strenge Hierarchie, der die Gerechten unterworfen waren, erschien ihr auf einmal ganz nützlich. Niemand würde eigenmächtig Schritte gegen ihn unternehmen – allerdings dürfte es nicht mehr lange dauern, bis sich sein Zustand herumgesprochen haben würde. Irgendjemand redete immer, und sobald der Erzengel Michael davon Wind bekam, würde er Samjiel zur Rede stellen. Beinahe wünschte sich Iris, Zeugin einer Auseinandersetzung zwischen diesen beiden mächtigen Engeln zu werden. Ein wenig schämte sie sich für den Gedanken, doch sie war zu lange Kriegerin, um sich nicht an einem ordentlichen Kampf erfreuen zu können. Und dieser würde mehr als das werden – er würde die sorgsam gehütete Ordnung der Gerechten nachhaltig erschüttern, davon war sie überzeugt. Sie lachte und klatschte in die Hände. Erschrocken flogen die Vögel auf. »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen«, murmelte sie und tat es ihnen nach.
»Weine doch nicht, Aljoschenka!« Obwohl sie wusste, wie sehr er es hasste, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, strich Galina dem Jungen das Haar aus der Stirn und schob ihm den Stuhl zurecht. »Jetzt iss erst mal was.«
Müde setzte sie sich ebenfalls an den sauber gescheuerten Tisch in der Wohnküche, griff nach einer Kelle und schöpfte klare Brühe aus dem Topf. Die Schale mit dem verblichenen Blumendekor schob sie Miljena zu. Aljoscha bekam die große Tasse mit dem angeschlagenen Henkel, für sich selbst füllte sie den Becher, aus dem sie morgens ihren Tee trank. Das Steingut schien beide Aromen aufzusaugen wie ein Schwamm. Suppe und Tee, das passte nicht zusammen. Doch auf solche Feinheiten zu achten, konnte sich hier niemand leisten.
»Dieses Mal hätten sie ihn beinahe erwischt. Es hat nur noch so viel gefehlt.« Miljena machte eine entsprechende Geste mit Zeigefinger und Daumen, die zeigen sollte, wie haarscharf der glücklose Dieb der Miliz entkommen war. »Er ist einfach zu blöd zum Stehlen.«
Sie musste nicht extra betonen, dass die Polizisten Aljoscha nicht nur verprügelt, sondern auch in das Kinderheim zurückgebracht hätten, in dem er die ersten Jahre seines Lebens in einem Gitterbett verbringen musste, bevor die älteren Jungen eine bessere Verwendung für ihn gefunden hatten. Wehren hatte er sich nicht können, dafür war er immer zu zart gewesen, doch Aljoscha besaß andere Talente. Die jedoch hatte er damals lieber für sich behalten, und auch jetzt war seine einzige Antwort ein gut gezielter Tritt gegen Miljenas Schienbein.
»Idiot!« Ihre Hand schoss vor und hinterließ fünf deutlich sichtbare Spuren auf seiner Wange.
»Kinder!« Nicht einmal die Stimme hatte sie erhoben, doch der Effekt hätte nicht größer sein können. Die beiden senkten gleichzeitig den Kopf und murmelten eine Entschuldigung.
Keine zwanzig Minuten später zeugten gleichmäßige Atemzüge davon, dass Aljoscha wenigstens für die nächsten Stunden Ruhe geben würde.
Miljena zog die Nase kraus. »Muss er wirklich hier im Haus schlafen? Er stinkt!« Vom Nutzen einer regelmäßigen Körperpflege hatten sie ihn bisher nicht überzeugen können, und normalerweise schlief er zumindest im Sommer ohnehin lieber in seiner Höhle , wie sie den Unterschlupf an der Abbruchmauer nannten.
»Weshalb warst du draußen? Du weißt doch, dass sie nach dir suchen!« Zum ersten Mal an diesem Abend ließ ihre Stimme etwas von der Besorgnis erahnen, die sie bis zu diesem Moment geschickt kaschiert hatte.
»Ach, Mama! Es wird immer
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