Himmelsschwingen
ließ vermuten, dass er etwas anderes sah als das harmlose Vergnügen, an dem sie sich eben noch erfreut hatte.
Aufmerksam ließ sie den Blick erneut über den Platz gleiten. Was war ihr entgangen? Ein Junge, kaum älter als sieben oder acht Jahre, drückte sich in der Nähe der Tou risten herum und sah aus, als führe er nichts Gutes im Schilde. Im Sommer hatten die Taschendiebe Hochkon junktur. Iris, hin- und hergerissen zwischen dem natürlichen Bedürfnis, Menschen vor Unheil zu bewahren, und dem Wunsch zu erfahren, was Samjiel derart fesselte, dass er alles um sich vergessen zu haben schien, wartete angespannt darauf, was als Nächstes passieren würde. Ihr Blick blieb an einer schlanken Gestalt hängen.An der Figur, beziehungsweise an dem, was davon zu erkennen war, konnte man das Geschlecht kaum festmachen, aber sie wusste, dass es ein Mädchen war, das etwas abseits stehend den geplanten Diebstahl ebenfalls bemerkt hatte.
Aus grobem Leinen, dunkel und weit geschnitten, erinnerten ihr Hemd und die schlichte Hose an die Kleidung einer chinesischen Landarbeiterin zu Zeiten der Kulturrevolution. Die mandelförmigen Augen in einem blassen Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer kleinen Nase unterstrichen diesen Eindruck. Plötzlich weiteten sie sich, und das Mädchen sah zu ihnen herüber. Nun war es Iris, die sich beobachtet fühlte.
Das wird ja immer interessanter. Iris konzentrierte sich auf das weitere Geschehen.
Der Taschendieb hatte sich ein Opfer ausgesucht, aller dings nicht mit dessen Aufmerksamkeit gerechnet. Die Touristin quietschte auf, und ihr Begleiter hielt den Jungen geistesgegenwärtig am Ärmel seiner Jacke fest. Der sah sich Hilfe suchend um, doch seine Landsleute scherten sich weder um ihn noch um den Fremden, der nun laut nach der Miliz rief. Nur die Jungs verließen ihren Platz an der Bank und schlenderten betont gelassen davon, als in einiger Entfernung zwei Ordnungshüter aus einem Burger-Imbiss kamen und sich missmutig nach der Lärmquelle umsahen. Als sie aber erkannten, dass der Fremde ihnen die Arbeit bereits abgenommen hat te, rückte der kleinere seine Uniformmütze zurecht und setzte sich in Bewegung. Der andere steckte einen letzten Bissen in den Mund und folgte ihm kauend, was seiner gefährlichen Ausstrahlung erstaunlicherweise keinen Abbruch tat.
Dem , dachte Iris, geht man lieber aus dem Weg. Der gleichen Ansicht schien auch das Mädchen zu sein. Sie hatte sich den Touristen unauffällig genähert und verpasste dem Mann nun einen harten Stoß, der ihn straucheln und seinen kleinen Gefangenen vorübergehend vergessen ließ. Der nutzte wieselflink die Chance zur Flucht und war kurz darauf in der Menge verschwunden. Auch seine Befreierin hatte sich unauffällig verdrückt.
»Was …?« Der Satz blieb Iris im Halse stecken. Samjiel schickte sich doch tatsächlich an, die bis eben noch unsichtbaren Schwingen auszubreiten! »Hast du vergessen, dass uns jeder sehen kann?« Schnell hielt sie ihn am Ärmel fest. »Du kannst ihnen doch nicht einfach hinter herfliegen!«
Obwohl selbstverständlich keiner der Menschen ge glaubt hätte, seinen Augen trauen zu können, wäre plötz lich jemand aus ihrer Mitte in die Lüfte aufgestiegen – Aufregung hätte es ganz gewiss verursacht und genau die Art Aufmerksamkeit erregt, die jeder von ihnen zu vermeiden suchte. Darin waren sich Wächter und Gerechte ausnahmsweise einmal einig. »Wer ist das? Dein Auftrag?«
Samjiel murmelte etwas, das verdächtig nach einem Fluch klang, und sah sie ärgerlich an. »Ich habe keinen Auftrag!«
»Ach ja, ich vergaß! Der mächtige General sucht sich seine Jobs selbst aus.« Nicht sicher, ob sich ihr Begleiter nicht doch noch vergessen würde, bemühte sie sich, ihn unauffällig in eine ruhigere Seitenstraße zu lotsen.
»Wenn es kein Job ist, was ist da bitte schön eben abgelaufen?« So schnell würde sie nicht aufgeben.
»Nichts!« Samjiel blieb stehen. Mit beiden Händen hielt er sich an dem eisernen Zaun fest, der die Passanten davor schützen sollte, in den Kanal zu stürzen. Schweigend sah er einem Boot nach.
Nachdem es langsam unter der geschwungenen Brücke hindurchgeglitten und längst außer Sichtweite war, versuchte Iris es noch einmal. »Sam, wenn du darüber sprechen willst …!«
»Es ist nichts.« Jetzt sah er sie an. »Iris, ich bin dir dankbar für das, was du für mich getan hast. Und ich weiß, was du vorhast, aber es wird nicht funktionieren. Ich bitte dich, geh deiner Wege!
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