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Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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waren. Im Gegenteil: Fast schien es, als habe es niemand eilig, heute nach Hause zu kommen. Menschen saßen auf Bänken, tranken aus mitgebrachten Flaschen, rauchten, plauderten, die Hände tief in den Ho sentaschen vergraben, oder strebten eilig einem unbe kannten Ziel entgegen; einer Verabredung vielleicht, mit Freunden oder dem Liebsten im Park, oder in eines der vielen Cafés und Restaurants, die es neuerdings hier an fast jeder Ecke zumindest der großen, touristischen Boule vards gab. Die beiden Engel ließen sich mit der Menge treiben.
    Man kennt Sankt Petersburg als die geheimnisvolle Schöne des Nordens. Im Sommer, wenn es nachts nicht mehr dunkel wird und der blau schimmernde Abendhim mel auf eine zarte Morgensonne trifft, finden Konzer te und Ausstellungen statt, und die Straßencafés sind bis frühmorgens gefüllt. Diese Weißen Nächte, sagt man, sind die beste Zeit für einen Besuch in der ehemaligen Hauptstadt des russischen Reichs, deren prachtvolle Bauten ver gessen lassen, dass die meisten der fünf Millionen hier lebenden Menschen ums Überleben kämpften. Vielleicht gab es in der Stadt deshalb so erstaunlich viele Engel: vergoldete, im Sonnenlicht strahlende auf den Dächern, farbenfrohe in den Kirchen und Schlössern und naive, ernst dreinblickende, auf altem Holz in hingebungsvoller Religiosität gemalte oder aus Geldgier kopierte Engelsfiguren. Und nicht zu vergessen die hoffnungslos über forderten Schutzengel, die ungezählten Nachkommen verstoßener Himmelsbewohner und dunklen, gefallenen Engel, die ihr Herz nicht vermissten und ihre Seele längst verkauft hatten.
    Was Samjiel dachte, konnte sie nicht ergründen. Eines aber stand fest: Er war nicht er selbst. Die Veränderungen, die unübersehbar in ihm vorgingen, machten ihn verletzlich. So sehr, dass sich Iris vornahm, ihn um jeden Preis zu schützen. Egal, was er als General getan hatte, er verdiente eine zweite Chance. Schließlich war er kein Mörder, der aus einem Zwang oder aus purer Lust getötet hatte. Sie glaubte fest daran, dass mit den Gefühlen auch die Erkenntnis kommen würde.
    Doch helfen konnte sie ihm nur, wenn er sich ihr anvertraute. Deshalb zermarterte sie sich das Gehirn, wie sie ihn dazu bringen konnte. Er durfte sie nicht als Gegnerin, sondern musste sie als Verbündete wahrnehmen. Bis es so weit war, würde sie ihm die Schönheiten dieser Welt ein bisschen näherbringen. Der mehr oder minder spontane Ausflug, den sie gestern in die Suppenküche unternom men hatten, war der erste, die Markthalle der zweite Schritt gewesen. Vielleicht half ihm dies dabei, schneller zu seinem neuen, bisher noch fremden Selbst zu finden. Viel Zeit blieb ihnen nicht, bevor andere Mächte über sein Schicksal entscheiden würden.
    »Man könnte«, überlegte sie laut, »in einen der Parks gehen.« Oder auch ans Ufer der Newa, wo die Menschen die milde Nacht genossen, als gelte es sich vom Winter zu erholen, dessen Spuren immer erst im Frühsommer aus dem Stadtbild verschwanden, wenn auch der letzte der vieles verbergenden Schneehaufen am Straßenrand ge schmolzen war. Das graue Eis gab zuweilen Erstaun liches frei: ausgeleerte Geldbörsen, eine verlorene Kindermütze oder gar, wie letzten April die Zeitungen gemeldet hatten, ein funktionsfähiges Holzbein. Doch jetzt war der Unrat endlich fortgeräumt, die tiefsten Löcher in den Hauptstraßen geflickt, und die Gesichter der Petersburger wirkten aufgeräumt wie sonst nur selten.
    Sie passierten einen Platz. Sechs, sieben Paare drehten sich zu bittersüßen Melodien, die eine ältere Frau auf der Geige spielte, während eine zweite dazu sang, mit so klarer Stimme, dass sie garantiert in einer klassischen Ausbildung geformt worden war. Publikum hatte sich einge funden. Zwei Mädchen, eng umfasst, wiegten sich zur Musik. Ihnen war anzusehen, dass sie tanzen wollten, sich aber nicht trauten. Vielleicht mit einem der jungen Männer, die et was abseits um eine Steinfigur herumstanden und, ein Bier in der Hand, verstohlen hinübersahen, stets darauf bedacht, dass die Freunde nicht bemerkten, wie gern sie ein Teil dieser heiteren Szene gewesen wären.
    Als Iris eine Bemerkung über die beschwingte Stimmung machen wollte, die so gar nicht zu ihrem Bild von der schwermütigen Seele der Bewohner dieses Landstrichs passte, verlangsamte Samjiel plötzlich seine Schritte, bis sie sich nach ihm umdrehen musste, um herauszufinden, was los war. Die hoch aufgerichtete Haltung, in der er nun verharrte,

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