Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
habe, mich zu verletzen. Ich habe eine ausgeprägte Abneigung gegen Krankenhäuser. Drei Tage am Stück in einem Krankenhaus, und ich drehe durch. Ich habe dieses Bloß-nicht-verletzen-Gen in mir und bin enorm vorsichtig, überall und zu jeder Zeit.
Das zeigte sich auch an meinen Anfängen als Base-Springer. Schon als Kind bin ich gerne Felsen raufgeklettert und habe dann vom Rand des Felsens in die Tiefe geschaut, immer mit dem Gedanken: Da möchte ich jetzt runterspringen! Wie cool wäre das, wenn ich jetzt einfach einen Kopfsprung machen könnte und heil unten ankäme! Dieser Gedanke war irgendwie immer präsent. Genauso wie dieser Traum, der seit meiner Kindheit immer wiederkehrt: Ich laufe die Straße runter, mache zwei, drei Schritte – und dann hebe ich ab und fliege. Einfach so. Ich nenne diesen Traum meinen Lebenstraum.
Als kleiner Junge habe ich schon Bilder von Fallschirmspringern gemalt. Anfang der 90er-Jahre sah ich dann einen Film, in dem zwei Burschen im Yosemite-Nationalpark in den USA Anlauf nahmen und einfach eine riesige Felswand runtersprangen. Ich dachte sofort: Das ist ja der Wahnsinn!
Nachdem ich dieses Video gesehen hatte, ließ mich der Gedanke, irgendwann einmal einen Base-Sprung auszuprobieren, nicht mehr los. Ich verfolgte ihn allerdings erst einmal nicht sonderlich konsequent, schließlich war ich Fallschirmspringer. Das Internet war nur mäßig verbreitet, und keiner von uns Fallschirmspringern wusste so recht, was Base überhaupt ist, geschweige denn, dass man einen Base-Springer kannte.
Der Einzige aus unserem Umfeld, der mal einen Base-Sprung gemacht hatte, war Hans Ostermünchner aus Bad Tölz. Er reparierte und verkaufte Fallschirme – und hatte einen Base-Sprung gewagt, weil er wissen wollte, wie sich das anfühlt. Einen einzigen. Aber in seinem Laden jobbte ein Amerikaner als Fallschirmpacker, der Base-Springer war und dem der Ruf vorauseilte, dass er Kurse geben würde. Sein Name war Tracy Lee Walker. Ich fragte Hans, ob ich Tracys Telefonnummer haben könnte. Er gab sie mir, auf einen Zettel notiert, und ich trug sie danach fast ein Jahr lang in meiner Brieftasche herum. Dieser kleine Zettel sollte die große Wende in meinem Leben bringen. Ohne dieses winzige Stück Papier wäre ich wahrscheinlich ewig Motorrad-Mechaniker geblieben. Umso bemerkenswerter, dass ich ihn so lange nur mit mir herumtrug. Aber ich hatte ja nie Geld, und ein Base-Kurs bei Tracy, das war mir klar, würde sicher eine Stange Geld kosten. Ich dachte: Solange ich kein Geld habe, kann ich den auch nicht anrufen. Der Zettel fiel schon fast auseinander und war grau von den Geldmünzen, die mit ihm in meiner Hosentasche gesteckt hatten, als ich die Nummer schließlich doch noch wählte.
Tracy meldete sich in einem schwer verständlichen Slang. Er stammt aus Texas, und mein Englisch war damals noch ziemlich bescheiden. Tracy konnte keinen Satz Deutsch sprechen, außer »Ein Weißbier, bitte!«. Und mehr kann er heute noch nicht, nach 17 Jahren in Deutschland. Er ist schon ein ganz schön fauler Hund, von außen betrachtet ein völliger Loser, der für einen Base-Sprungfilm nach Deutschland gekommen war, aus dem dann nie etwas wurde. Mit dem Job als Fallschirmpacker wurschtelte er sich irgendwie durch. Als er in den Fallschirmladen zu Hans Ostermünchner kam und sich für einen Job bewarb, hatte er keine Zähne mehr im Mund gehabt. Ostermünchner sagte zu ihm: »Wenn du bei mir arbeitest, brauchst du Zähne«, und schickte ihn zu einem befreundeten Zahnarzt. Tracy bekam neue Zähne, die Kosten dafür konnte er dann gleich anschließend im Laden abarbeiten. Tracy, das erfuhr ich später von ihm selbst, hat nie eine echte Kindheit gehabt. Die Mutter hatte jede Woche einen neuen Trinker als Freund, und jeder von diesen besoffenen Typen hat Tracy geschlagen. Irgendwann stand er in der Früh auf, und ein Sack Kartoffeln lag auf dem Tisch, daneben ein Brief von seiner Mutter: Sie hatte sich aus dem Staub gemacht und ihre beiden Söhne sitzen gelassen. Tracy wuchs in einer Bad Boy School für Kinder und Jugendliche aus zerrütteten Verhältnissen auf. Er hat schon eine wilde Vergangenheit, umso mehr bewundere ich ihn für seine Aufrichtigkeit und bedingungslose Hilfsbereitschaft.
Am Ende unseres kurzen Telefonats lud er mich zu sich nach Hause ein. Als er die Tür aufmachte, dachte ich nur: O Gott! Um zwei Uhr nachmittags stand da dieser Mann vor mir im Morgenmantel, unrasiert, Bier in der einen Hand, Zigarette
Weitere Kostenlose Bücher