Himmelssturz
Es machte ihr keinen Spaß, den feinfühligen jungen Mann in eine so konfliktgeladene Situation zu bringen, aber sie musste seine Version der Geschichte hören.
»Saul hat die Testläufe gestoppt?«
»Ja«, sagte er widerstrebend. »Wir arbeiten jetzt wieder virtuell.«
Sie betrachtete seinen Kopf, der fast zur Glatze kahl rasiert war. Es waren keine äußerlichen Anzeichen zu erkennen, dass er ein Taphead war, es gab keinen Hinweis auf die Operation, der man ihn auf der Erde unterzogen hatte. Dazu hatte man viel zu gute Arbeit geleistet. DeepShaft hatte mehrere Milliarden Dollar in Crabtree und seinesgleichen investiert. Das interkraniale Mikroelektrodenimplantatnetz bildete ein hochkompliziertes Geflecht, das an zehntausend kortikale Motorikneuronen angeschlossen war. Das IMIN und der Korrelationsneurochip erlaubten Crabtree, Maschinen mit seinem Geist zu steuern. Mit entsprechendem Training konnte er einen Roboter mit einer Geschicklichkeit bewegen, die jemand mit einer normalen Fernsteuerung niemals erreichen würde. Dabei verschmolz der Roboter vollständig mit seinem eigenen Körperbild.
Deshalb war es kein Wunder, dass Crabtree von vielen Besatzungsmitgliedern gefürchtet wurde.
»Hat Saul einen Grund genannt, warum er die Integration eingestellt hat?«, fragte Bella.
»Es gab Ärger«, sagte ihr der Taphead. »Drohungen.«
»Also, wenn es nicht um Janus ginge …«
»Janus?«
»Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation. Hinzu kamen mehrere Unfälle … die Besatzung steht im Moment ziemlich unter Druck. Wenn Normalbetrieb herrschen würde, hätte ich keine Schwierigkeiten, mich gegen die allgemeine Stimmung zu entscheiden und dich auf eine Position zu setzen, wo du uns wirklich von Nutzen wärst.«
»Aber im Moment musst du die übrige Besatzung bei Laune halten.«
»Ja«, sagte Bella matt.
»Schon gut«, sagte Crabtree. »Das verstehe ich. Es ist natürlich, dass man Bedenken gegen meine Anwesenheit hat.«
»Trotzdem ist es nicht richtig.«
Nun fand er endlich die Kraft, ihr direkt in die Augen zu sehen. Seine waren so hart und kalt wie Eisen, und sie hatte das Gefühl, ihre Körpertemperatur würde um ein paar Grad fallen.
»Es ist richtig. Ich bin die Zukunft. Sie sollten Angst vor mir haben.«
Ihr Flextop piepte. Bella hob die Hand. »Eine Sekunde, Thom.« Als sie sah, dass der Anruf von Svetlana kam, nahm sie ihn sofort an. »Hallo, Svieta. Kann ich dich in ein paar Minuten zurückrufen?«
»Eher nicht.« Svetlana beugte sich näher an die Linse heran, sodass ihr Gesicht riesig und verzerrt wirkte. »Es kann nicht warten. Nicht diese Sache. Nicht diesmal.«
Bella entschuldigte sich bei Thom Crabtree – schließlich war er mit einer ernsthaften Beschwerde an sie herangetreten, und sie hatte kaum etwas getan, um seine Sorgen zu zerstreuen – und führte ihn zur Tür. Als er ging, spürte Bella das vertraute Kribbeln des Schuldgefühls, weil sie genau wusste, dass sie einem Problem ausgewichen war und es nicht gelöst hatte. Ihre Wahl des T-Shirt-Slogans war auch nicht gerade angebracht gewesen:
Ich kann pro Tag nur einem Menschen helfen.
Heute ist nicht dein Tag.
Und morgen sieht es auch nicht gut aus.
Sie hoffte, er hatte es nicht persönlich genommen. Dann schob sie Thom Crabtree geistig zur Seite, machte sich etwas Kaffee warm und drückte den kleinen Knopf am T-Shirt-Saum, der einen neuen Slogan erscheinen ließ.
Ich habe noch einen Nerv übrig,
und du trittst gerade drauf.
Auch nicht wesentlich besser, dachte sie und ging weitere Möglichkeiten durch. Als sie gerade die Grundeinstellung ohne Spruch wiedergefunden hatte, die sie von Anfang an hätte wählen sollen, traf Svetlana ein, begleitet von Parry Boyce, der wie ein Bodyguard in den Türrahmen trat. Bella sah den unerwarteten Gast verblüfft an, trotzdem forderte sie ihn auf, hereinzukommen. Beide trugen Anzugunterkleidung, die nach Schweiß müffelte.
Bella musterte Parry und fragte sich, was er mit allem zu tun hatte. »Wollt ihr Kaffee?«
»Bemüh dich nicht«, sagte Svetlana. »Mir ist im Moment nicht danach, etwas zu essen oder zu trinken.«
Bella gab ihnen zu verstehen, dass sie sich auf die Klappstühle vor ihrem Schreibtisch setzen sollten. »So schlimm?«
»Noch viel schlimmer.«
Svetlana reichte ihr einen Flextop. Bella erkannte mit einem flüchtigen Blick auf das Display, dass es sich um die Kurven mit den Druckwerten handelte. »Nicht schon wieder«, sagte sie etwas
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