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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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der trockene Augen hatte.
    Ich weinte nicht, aber vielleicht hätte ich es tun sollen.
    An diesem Nachmittag erfuhr ich zum ersten Mal, wie es sein würde, wenn Mina fort war. Mutter hatte sich ins Schlafzimmer eingesperrt und im Bett verkrochen. Vater war heimgekommen – er hatte am Morgen im Krankenhaus gearbeitet –, aber es hielt ihn nicht lange im Haus. Er ging in den Garten und rechte im Regen Laub. Ich versuchte ihm Gesellschaft zu leisten, aber er wollte mich nicht bei sich haben. »Sonst wirst du noch krank, und ich muss mir von deiner Mutter wieder Vorhaltungen anhören. Hast du keine Hausaufgaben auf?«, fragte er mit vertrautem Lispeln und verschleiertem Blick, was darauf hindeutete, dass er wieder getrunken hatte.
    Ich hatte Hausaufgaben auf. Ich setzte mich an den Küchentisch, zog mein Mathebuch heraus und machte mich an die Arbeit. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Im Haus herrschte eine erdrückende Stille, die sich mehr und mehr in den Vordergrund schob. Ich mühte mich mit meinen Aufgaben, aber selbst das Kratzen des Bleistifts empfand ich als Zumutung.
    Ich legte den Stift weg und lauschte.
    Ich hörte das Knarren der Sockelleiste. Ich hörte das Ticken einer Uhr im angrenzenden Zimmer. Ich hörte draußen einen Wagen vorbeifahren. Und als plötzlich das Summen des Kühlschranks verstummte und ich bemerkte, dass der Regen nicht mehr gegen die Fenster schlug, hörte ich die Stille selbst. Eine kalte, tote, reglose Stille.
    So würde es klingen, wenn Mina fort war.

16
    DIE NIKAH
    A m Nachmittag der Hochzeit standen Vater und ich in der prächtigen Lobby des Atwater Hotel. Ein kleiner Mann im roten Anzug und mit gewellten, grau melierten Haaren kam durch die Drehtür, an seiner Seite ein Junge, der so groß war wie er. Der Mann kam auf uns zu. »Sie sind auch wegen der Hochzeit hier?«, fragte er mit starkem pakistanischem Akzent.
    Vater nickte. Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Mirza. Mirza Hassan.«
    »Naveed Shah«, sagte Vater und gab ihm die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen.«
    »Das ist mein Sohn, Farhaz …«
    Der Junge streckte Vater die Hand hin. Dann mir.
    »Farhaz?«, fragte ich überrascht. »Der Hafiz ? «
    »Jep«, erwiderte er kühl. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt und jemanden vor mir gesehen, der groß war, sehr viel größer als ich, mit kräftigen, markanten Gesichtszügen und durchdringenden Augen, mit denen er auf mich herabsah, zuweilen mitfühlend, zuweilen verächtlich, aber immer funkelnd in ihrem ganz eigenen Glanz. Ich hatte ihn mir sogar wie den Propheten in meinem Traum vorgestellt, mit einer Lücke zwischen den Schneidezähnen. Und jetzt stand jemand vor mir, der kaum größer war als ich, mit kleinen, trüben Augen und einer silbernen Zahnspange. Und ihm gingen die Haare aus: Unter den spärlichen, fettigen Strähnen zeichnete sich deutlich die Kopfhaut ab. Wären nicht die Zahnspange und die roten Flecken seiner blühenden Gesichtsakne gewesen, hätte ich ihn mindestens fünf Jahre älter als mich geschätzt.
    »Wie heißt ihr Sohn?«, fragte Mirza Vater.
    »Hayat«, erwiderte Vater. »Sei nicht unhöflich.«
    Ich streckte erst Mirza, dann Farhaz die Hand hin.
    »Du bist also ein Hafiz ? «, fragte ich erneut.
    »Sagte ich doch schon.«
    »In der Tat.« Stolz wandte sich Mirza an Vater. »Der erste in der Familie.«
    Vater ging darauf nicht ein.
    »Und was machen Sie, Naveed?«
    »Ich bin Arzt.«
    »Fantastisch! Ich bin Pharmavertreter!«, sagte Mirza und zückte seine Brieftasche. »Welches Fachgebiet?«
    »Neurologie.«
    »Ah! Tolle Sache, tolle Sache.« Mirza nahm eine Visitenkarte heraus und reichte sie Vater. »Meistens kardiologische Geräte. Aber man weiß ja nie, Dr. Shah …«
    Vater starrte ausdruckslos auf die Karte, dann schob er sie in die Hosentasche.
    »Was für ein Gebäude!«, bemerkte Mirza, als er sich in der Lobby umsah. Sie erstreckte sich über drei Stockwerke und verfügte über zwei dunkle Mahagonibalkone, die von mit Schnitzereien verzierten Säulen gestützt wurden. An den Wänden hing säuberlich ein Gemälde neben dem anderen. Mirza zeigte auf die Malereien. »Jemand hat mir gesagt, es wären alles echte viktorianische Kunstwerke. Die hunderttausende Dollar wert wären.«
    Vater täuschte Interesse vor, sein Blick schweifte zum Oberlicht, hinter dem ein grau-weißer, bewölkter Novemberhimmel zu erkennen war.
    In der Drehtür erschien Sunil, der eine neue Zigarettenschachtel auspackte.
    »Ah, der Mann des

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