Himmelssucher - Roman
Tisch zu.
»Was soll das, Tante?«
»Was meinst du, Behta? «
»Das ist nicht respektvoll. Du solltest das Buch in die Hand nehmen und mir reichen.«
Kurz schien Mina irritiert, als hätte ich sie durch meinen Kommentar gekränkt. Dann nickte sie.
»Du hast recht«, sagte sie. Sie nahm den Koran und küsste den Einband. »Hier …«, sagte sie und reichte mir das Buch, das bereits bei der Sure Ya-Sin aufgeschlagen war.
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und murmelte die Verse vor mich hin.
Mina unterbrach mich. »Was tust du?«
»Auswendig lernen.«
»Aber fang nicht mit dem Auswendiglernen an. Lies es zuerst. Mach dir klar, was es bedeutet.«
»Okay.«
»Du sollst nicht nur Wörter auswendig lernen. Wörter sind nicht wichtig, wenn du nicht weißt, was sie bedeuten.«
»Okay, Tante.«
»Und sag nicht immer okay , Hayat. Ich will, dass du verstehst, was ich sage.«
»Was zählt, ist die innere Einstellung, Tante.«
»Das stimmt, Behta . Das sage ich immer …«
Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre, ich meinem Koran. Nach einer Weile fiel mir auf, dass Mina mich ansah.
» Behta? Was würdest du sagen, wenn Dr. Wolfsohn dein Onkel würde?«
Ich verstand sie nicht. »Wie soll er mein Onkel werden?«, fragte ich.
»Wir überlegen, ob wir heiraten sollen.«
»Heiraten?«
Mein Herz stürzte in ein dunkles Loch. »Aber er ist doch kein Muslim«, sagte ich.
»Er wird konvertieren, Hayat. Er wird einer von uns.« Sie strahlte.
»Warum?«, fragte ich kühl.
Ihr Lächeln schwand. »Ich verstehe nicht, warum du das fragst, Hayat.«
Plötzlich wirkte sie verunsichert. Ich sah auf die Buchseite, markierte die Stelle, an der ich war, und klappte den Koran zu. »Warum will er ein Muslim werden?«, fragte ich erneut.
»Warum meinst du wohl?«, fragte sie. »Weil er es für eine wunderbare Lebensweise hält. Gibt es irgendeinen anderen Grund?«
Ich starrte sie an, ohne darauf zu antworten.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Noch immer starrte ich sie an. Sie rührte sich nicht. Dann hörte das Klingeln auf.
Sie wandte den Blick ab.
Und dann klingelte es erneut. »Ich gehe mal ran«, sagte sie und ging in die Küche.
Es war Nathan. Sie nannte seinen Namen nicht, aber ich hörte es an ihrer Stimme. »Ich rufe zurück«, sagte sie liebevoll.
Ich sah ihr nach, als sie über die Stufen nach unten ins Fernsehzimmer verschwand. Sie hatte ihr Buch liegen lassen, ein dünnes, altes gebundenes Buch, nicht unähnlich dem, das Nathan mir geschenkt hatte. Ich fragte mich, ob ebenfalls etwas hineingeschrieben war, so wie er es bei meinem getan hatte.
Ich nahm es zur Hand und schlug die Titelseite auf. »Herz der Finsternis«, stand dort. Eine Widmung fand ich nicht, nur eine Adresse oben in der Ecke einer der leeren Seiten:
Mina Suhail
Dawes Lines Rd 14
Karatschi, Pakistan
Ich klappte es zu und legte es wieder hin.
An diesem Abend erklärte mir Mutter, mit der ich im Fernsehzimmer saß, was geschehen war. Sie und Mina waren zu dem Schluss gekommen, dass Minas Eltern Nathan nie und nimmer akzeptieren würden, solange er kein Muslim wurde.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Es war noch nicht einmal auf seinem eigenen Mist gewachsen!
»Glaubt er denn wirklich?«, fragte ich.
»Er glaubt an seine Liebe zu Tante Mina«, erwiderte Mutter, die doch tatsächlich vor Rührung feuchte Augen bekam.
»Aber glaubt er?«, beharrte ich.
Mutter schien verwirrt. »Was ist los mit dir, Hayat? Hast du Hunger oder was?«
»Ich will wissen, ob er wirklich glaubt.«
»Was glaubt?«
In meinem wachsenden religiösen Eifer war ich mir über die Beziehung meiner Mutter zu unserem Glauben nicht richtig im Klaren gewesen und hatte mich vielleicht sogar absichtlich blind gestellt, damit ich die äußeren Anzeichen ihres mangelnden Interesses oder ihrer mangelnden Hingabe nicht sehen musste. Aber diese Frage machte nun mehr als deutlich, wie lächerlich es war, dass sie sich selbst als Muslimin bezeichnete. »An den Propheten! An das Jüngste Gericht! An Allah!«
»Woher soll ich das wissen?«, antwortete sie und tat meinen hitzigen Ton mit einem Schulterzucken ab. »Was spielt es für eine Rolle, was der Mann tut … Er bringt ein wunderbares Opfer . Um Gottes willen, er sagt sich von seinem eigenen Volk los, weil er deine Tante liebt. Weißt du, dass sein Vater ein Holocaust-Überlebender ist? Was meinst du, was der sagen wird? Aber nein, es ist ihm nicht wichtig, was sein Vater sagt. Er liebt deine Tante.« Mutter
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