Himmelssucher - Roman
verfügt, dass die Flammen ihm nur Kühle und Sicherheit waren. So saß Ibrahim inmitten der Flammen und verbrannte nicht, und als er aus der Grube stieg, waren die Menschen erstaunt. Er erzählte dem König die Wahrheit des Herrn, und schließlich folgten ihm die Menschen. Und so kam es, dass Ibrahim zum ersten Propheten des Islam wurde.
Immer wieder sah ich zu Mina, als Nathan diese Geschichte erzählte. Immer nickte sie. Als er mit seiner Geschichte fertig war, sagte er noch Folgendes: »Ibrahim hatte zwei Söhne. Wusstest du das, Hayat? Einer von ihnen hieß Isaak …«
»Und der andere Ismail«, vervollständigte ich den Satz.
»Richtig, Ishmael … Und von Isaaks Söhnen stammen die Juden ab, und von Ishmaels Söhnen die Muslime. Das heißt, wir alle, die wir hier um diesen Tisch sitzen, sind Kinder Abrahams.«
Mina beobachtete ihn voller Stolz, griff nach seiner Hand und drückte sie.
Er lächelte erst sie an, dann mich.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber ich erwiderte das Lächeln.
Nathan blieb zum Essen. Das hieß, dass es nun an mir lag, den Babysitter für Imran zu spielen, nachdem Mutter vom Einkaufen zurückgekehrt war und beinahe ebenso elend aussah wie am Morgen, als sie sich bei mir am Bett ausgeheult hatte. Ich schaffte Imran runter ins Fernsehzimmer, wo wir aus zusammengeklammerten Bettlaken ein Zelt errichteten, das mit mehreren, aus der Besenkammer geklauten Wischmop- und Besenstielen aufgerichtet wurde. Diese wacklige Konstruktion bezeichnete ich als unsere Burg. Wir schafften so viele Sachen hinein – Spielzeug (für ihn), einen Koran (für mich) sowie Kissen und ein Schachbrett (für uns beide) –, dass es keinen ersichtlichen Grund gab, es jemals wieder verlassen zu müssen.
Wir begannen mit einer Partie Schach. Ich hatte mich erweichen lassen, entgegen meinem Entschluss doch wieder mit ihm Schach zu spielen, und er mühte sich nach Kräften, die Regeln einzuhalten, die, das musste man ihm zugestehen, für einen Fünfjährigen nicht unbedingt einfach waren. Aber er strengte sich an. Wie seine Mutter war Imran intelligent und spielte mittlerweile besser Schach, als man von jemandem in seinem Alter überhaupt erwarten konnte.
Imran hatte meine drei Grundregeln der Schachstrategie zur Genüge gehört, die drei Regeln, die ich in der dritten Klasse in Mr. Marshaks Schachclub gelernt hatte: Bring deine Figuren aufs Feld; schütze deine Figuren, wenn sie im Spiel sind; kontrolliere das Zentrum des Felds. An diesem Nachmittag gingen wir sie erneut durch, bevor wir mit einem neuen Spiel anfingen, und einige Minuten später fragte ich, ob er sich noch an sie erinnern könne. Er wiederholte die ersten beiden Regeln, die dritte aber hatte er vergessen. Also ging ich sie erneut durch. Als ich ihn nach dem nächsten Zug bat, zu wiederholen, was ich ihn gelehrt hatte, konnte er sich wieder nicht an die dritte Regel erinnern.
»Du hast kein besonders gutes Gedächtnis, was?«, giftete ich.
Er war verwirrt. Ich beugte mich vor und packte ihn an den Armen. »Kontrolliere … die … Mitte … des … Feldes.«
»Kontrolliere die Mitte des Feldes.«
»Wiederhole es«, sagte ich.
Er tat es. Aber das reichte mir noch nicht. »Vergiss es nicht«, sagte ich, während ich ihn immer noch an den Armen gepackt hielt.
»Werde ich nicht, Bhaiya «, erwiderte er und fing an zu wimmern. Ich ging nicht darauf ein, dass er mich seit einiger Zeit »Bruder« nannte; Tatsache aber war, dass ich allmählich wirklich das Gefühl hatte, er wäre mein kleiner Bruder.
»Du willst doch, dass ich mit dir spiele, oder?«
»Ja«, antwortete er weinerlich.
»Dann jammere nicht, Bhai .«
Er nickte, sein Blick hellte sich auf, als er das Wort hörte.
Ich hielt ihn noch fester.
»Ich will, dass du noch etwas nicht vergisst«, sagte ich ernst. »Schau dich um. Siehst du das alles? Siehst du die Laken? Die Burg? Siehst du das alles?«
Er nickte erschreckt.
»Wir sind in unserer Burg. Wir sind hier. Das alles ist um uns herum. Ich will, dass du diesen Augenblick, jetzt , nie vergisst. Dass du dich immer daran erinnerst und es dein ganzes Leben lang nicht vergisst.« Ich wiederholte es ein weiteres Mal und noch ein Mal. Jedesmal sagte er, er würde es nie vergessen. Endlich zufriedengestellt, ließ ich ihn los.
Mina tauchte am Eingang auf. »Ach, wie schön«, sagte sie. »Kann ich zu euch kommen?«
»Hast du was dagegen?«, fragte ich Imran. Er dachte eine Sekunde darüber nach, dann schüttelte er
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