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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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eingetrommelt. Und das habe ich gehört, als mir der Schmerz in die Hand fuhr. Daher dachte ich, der Lärm, den er veranstaltete, wäre der Grund für meine Schmerzen gewesen. Also gab ich ihm die Schuld, schrie ihn an und befahl ihm, still zu sein.«
    Souhef sah zu seinem Sohn in der ersten Reihe und lächelte ihn an. »Ihr fragt euch sicherlich: Warum reitet unser Imam so sehr darauf herum? Gut, er hat einen Fehler begangen, er hat seinen Sohn angeschrien. Aber wir alle machen Fehler. Es war falsch. Wir wissen, dass es falsch war. Das muss der Imam uns doch nicht sagen … Aber, meine Brüder und Schwestern, habt bitte Geduld, denn wir wollen uns mit diesem Moment noch etwas beschäftigen und ihn näher betrachten.
    Als ich mich mit der Zange verletzt habe, hatte ich das Gefühl, die dabei erlittenen Schmerzen wären ungerecht. Ich wollte dieser Ungerechtigkeit auf den Grund gehen und die Ursache erkennen. Aber damit stellte ich mir die völlig falsche Frage. Die eigentliche Frage lautet nämlich: Warum hatte ich überhaupt das Gefühl, die Schmerzen wären ungerecht? Schließlich ist mir die Zange einfach nur abgerutscht. Es war ein Unfall. Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich dadurch doch gar nicht!
    Die Seele, meine Brüder und Schwestern, folgt aber ihrer eigenen Logik. Und ihr müssen wir lauschen, wenn wir verstehen wollen, was Allah von uns will.
    Weil dieser Augenblick für mich so schmerzhaft war, beschlich mich das Gefühl, alles wäre ungerecht. Es entspricht der Natur – der menschlichen Natur –, dass man Schmerzen vermeiden möchte. Aber dabei bleibt es nicht. Nicht nur möchte ich keine Schmerzen erleiden … ich habe sogar das Gefühl, dass ich es nicht verdient hätte, Schmerzen zu erleiden. Ich habe das Gefühl, ich hätte Besseres verdient als Schmerzen, schöne Dinge, Glück, Wohlstand, Frieden, Freude … aber keine Schmerzen …
    Die eigentliche Frage, meine Brüder und Schwestern, lautet also: Warum hatte ich dieses Gefühl überhaupt? Warum hatte ich das Gefühl, ich hätte die Schmerzen nicht verdient gehabt? Ist das nicht die eigentliche Frage? Habe ich deshalb nach einem Schuldigen gesucht? Weil ich das Gefühl hatte, ich wäre zu gut für Schmerzen? Nein? Oder vielleicht doch? Oder vielleicht aus einem ganz anderen Grund?«
    Mit jeder Frage wurde seine Stimme lauter. Dazu kam die beharrliche Betonung bestimmter Wörter, die einen Themenwechsel andeuteten, den jeder, der seine Chutbahs schon mal gehört hatte, bereits erwartete.
    »War es nicht meine Liebe , die mich zu dieser Frage verleitete?«, brüllte er. Seine elektronisch verstärkte Stimme dröhnte durch den Raum und forderte uns zu einer Antwort auf.
    »War es nicht meine Liebe?«
    Etwas in meinem Magen zog sich zusammen, ich spürte ein nagendes, irritierende Gefühl. Angst.
    »Ist es nicht die Liebe ? Die Liebe zu uns … zu uns selbst … die uns veranlasst zu denken, wir hätten Schmerz und Leid nicht verdient? Ist es nicht diese Selbstliebe, die uns veranlasst zu denken, wir hätten Besseres verdient?«
    Wieder hielt er inne. Verstohlen sah ich zur Männerreihe rechts von mir. Einer hatte mit dem Schlaf zu kämpfen. Ein anderer spielte mit einem losen Faden am Teppich. Ich sah nach links, zu meinem Vater. Sein sorgenvoller Gesichtsausdruck, als Souhef die Kinder Israels erwähnt hatte, war verschwunden. Gelangweilt gähnte er.
    Souhef beugte sich jetzt zum Mikrofon vor, berührte es sogar mit den Lippen und sprach nun sanfter, inniger zu uns.
    »Meine lieben Brüder und Schwestern, haben wir Geduld. Denken wir eingehender über unsere Frage nach. Ihr leidet Schmerzen … und ihr glaubt, ihr hättet sie nicht verdient. Jetzt denkt an eure Kinder. Denkt daran, wie sehr ihr jedes einzelne davon liebt, wie sehr ihr wollt, dass sie glücklich sind. Denkt daran, wenn sie Schmerzen leiden. Wie geht es euch dann? Ist das nicht das gleiche Gefühl? Glaubt ihr dann nicht auch, dass sie Besseres verdient hätten? Und liegt das eben daran, weil ihr sie liebt?
    Ihr seht also, meine Brüder und Schwestern, es ist die Liebe . Die Liebe zu sich selbst, sie ist der Grund für dieses Gefühl der Ungerechtigkeit, das uns ereilt, wenn wir Schmerzen erleiden …
    Ihr mögt euch jetzt fragen: Warum liest uns der Imam Verse aus Al-Baqara vor und erklärt uns die Verletzung, die er sich an der Hand zugefügt hat? Ihr mögt sagen: Was, guter Imam, hat das eine mit dem anderen zu tun?
    Vertraut mir … das alles hat sehr viel mit Al-Baqara

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