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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Rachen schieben.«
    Nathan wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Was bist du nur für ein Zyniker, Naveed. Daran solltest du wirklich etwas arbeiten.«
    »Mach dir um mich mal keine Sorgen. Und wappne dich, jetzt geht es direkt ins Mittelalter.« Mit einem Nicken wies Vater auf eine Gruppe Frauen mit Kopftuch, die sich am anderen Ende des Schulgebäudes vor dem mit »Frauen« überschriebenen Eingang versammelt hatten. In den Hitzeschwaden waberten ihre verhüllten Körper, als wären sie Trugbilder einer Luftspiegelung. Es waren etwa ein halbes Dutzend, und alle sahen zu uns.
    »Wen starren sie bloß so an?«, fragte Nathan.
    »Na, wen meinst du wohl, Nate?«, gab Vater zurück.
    »Mich?«
    Vater nickte.
    Nathan lächelte und winkte ihnen zu. Erschreckt drehten sich die Frauen um, eilten zum Eingang und verschwanden im Gebäude.
    Vater klopfte Nathan auf den Rücken. »Ich hab’s dir doch gesagt, Nate. Wie im Mittelalter.«
    Unten hatte der Sprechgesang eingesetzt.
    Allahu akbar, Allahu akbar, Allahu akbar …
la ilaha ilallah …
    Wir waren in der Schuhkammer, einer mit Schuhregalen vollgestellten Nische vor dem Gebetsraum, und durch die Doppeltüren des Gebetsraums drang das anschwellende Murmeln der Männerstimmen.
    Allahu akbar, Allahu akbar, Allahu akbar …
la ilaha ilallah …
    Nathan starrte auf die geschlossenen Türen und lauschte, während er seine Docksides auszog. Hinter uns eilten zwei junge Männer die Treppe herab, schlüpften hastig aus ihren Schuhen und drückten die Doppeltüren auf. Der Gesang wurde lauter, klarer, eindringlicher.
    Allahu akbar, Allahu akbar, Allahu akbar …
la ilaha ilallah …
    »Was machen sie da?«, fragte Nathan meinen Vater.
    »Das ist das Dhikr. Man spricht es vor dem Gebet.«
    »Das ist schön«, sagte Nathan.
    Vater nickte und spähte in den Raum; seine Augenwinkel schimmerten feucht. »Ja, das ist es«, sagte er.
    Das Dhikr – oder »das Gedenken« – war das, woran ich mich von meinen wenigen Moscheebesuchen am meisten erinnerte. Vor dem Gottesdienst versammelten sich die Gläubigen im Gebetsraum, und wenn sechs von ihnen beisammen waren, begann der Sprechgesang, eine einfache, hypnotische Melodie, die zwischen zwei tiefen Tönen hin und her wechselte …
    Allahu akbar, Allahu akbar, Allahu akbar …
    … bis die abschließenden Silben sich zu einem Arpeggio aus höheren Tönen aufschwangen …
    … la ilaha ilallah …
    … um am Ende wieder zur ersten Note des Sprechgesangs zurückzukehren, so dass sich der Kreis schloss und von Neuem beginnen konnte.
    Der Gesang gewann an Tiefe und Volumen, je mehr Gläubige mit einstimmten. Und mit ihrer Zahl, die von einer Handvoll bis zu einigen Dutzend, an religiösen Feiertagen manchmal auch bis zu Hunderten reichen konnte, bildete sich ein ausgedehnter Klangkörper, der über uns schwebte – rund, kreisend, magisch –, genau wie die Engel, die laut dem Koran über das Treiben der Menschen wachten. Von den Lobpreisungen des einen und einzigen Gottes ging eine sinnliche, regelrecht körperlich erfahrbare Schönheit aus, die selbst hartgesottenen Skeptikern wie meinem Vater die Tränen in die Augen treiben konnte.
    Der Gebetsraum war mit hundert Männern gefüllt, deren Rücken im Gleichklang mit ihrem Gesang hin und her wiegten. Der Raum selbst, dunkel und groß, höhlenartig – es handelte sich um die einstige, im Keller untergebrachte und umgebaute Schulcafeteria –, schien unter dem heiligen Gesang zu vibrieren. Nathan sah zu mir und schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist so schön«, sagte er erneut. Ich nickte. Dass Nathan von dem Dhikr so bewegt war, rührte mich.
    Ich lächelte. Freundlich erwiderte er das Lächeln.
    Vater holte tief Luft und murmelte leise vor sich hin, als er Nathan zu einem Platz ganz hinten im Raum führte. Ich ging zum Regal hinüber, in dem Exemplare des Koran auslagen. Nur eines war noch übrig. Ich nahm das Buch, ging darauf zu einem leeren Platz in der Mitte des Raums, setzte mich, drückte mir den Koran an die Brust und stimmte mit ein:
    Allahu akbar, Allahu akbar, Allahu akbar …
la ilaha ilallah …
    Wie die anderen wiegte ich sacht mit dem Oberkörper hin und her. Aber das Dhikr an diesem Nachmittag näherte sich seinem Ende. Als sich Vater neben mir niederließ, hatte Imam Souhef bereits seinen Platz im Mihrab eingenommen. Vater legte mir die Hand auf das Knie, und erst da bemerkte ich, dass ich der Einzige war, der noch sang.
    Souhef wuchtete sich auf die erhöhte

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