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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Plattform, auf der er seine Predigten verkündete. Er ließ sich im Schneidersitz nieder und löste den Verband an seiner rechten Hand.
    Er fummelte am Mikrofon vor sich herum. »Test, Test. Könnt ihr mich hören?«, hallte seine blecherne Stimme aus den Standlautsprechern. Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum. Jemand hustete. Souhef steckte das Mikro wieder auf, was eine markerschütternde Rückkoppelung verursachte. »Entschuldigt, meine Brüder«, sagte er und spielte mit dem Mikrokabel herum, bevor er glucksend hinzufügte: »Und auch meine Schwestern.« (Die Frauen zwei Treppenabsätze höher, die sich in einen beträchtlich kleineren Gebetsraum drängten und seiner Stimme per Lautsprecher lauschten, hatten die Rückkoppelung zweifellos ebenfalls gehört.)
    Mit erhobenen Armen und nach oben gekehrten Handflächen sprach er die kurze Anrufung, dann sah er in den Koran, der aufgeschlagen in seinem Schoß lag, und sagte:
    »Brüder und Schwestern, wer einen Koran vor sich hat, möge bitte die Sure Al-Baqara aufschlagen, ›Die Kuh‹. Verse vierzig und einundvierzig.«
    Papierrascheln war zu hören. Souhef wartete, den Blick in die Ferne gerichtet oder vielleicht, wie ich mir vorstellte, auf den Neuankömmling, auf Nathan, der ruhig hinten an der Wand saß. Schließlich kehrte wieder Stille ein. Souhef sah auf die Seite, seine zusammengekniffenen Augen glänzten wie geschliffene Klingen. Und dann begann er mit lauter, stolzer Stimme zu lesen:
    O Kinder Israels,
Gedenkt des Guten, das ich euch getan,
Und haltet in Treue fest an dem Bündnis mit mir, dann will auch ich daran festhalten.
Mir allein sollt ihr Ehrfurcht erweisen!
Glaubt, was ich offenbart habe zur Bestätigung der Wahrheit. Seid nicht die Ersten, die nicht daran glauben.
Und verkauft nicht meine Offenbarungen gegen einen nichtigen Preis.
Und mir allein sollt ihr Ehrfurcht erweisen!
    Unter den Anwesenden machte sich Unruhe breit. »Kinder Israels«, so bezeichnete der Koran die Juden. Vater runzelte die Stirn, sah zu mir und dann zu Nathan. Ich drehte mich ebenfalls um und musste überrascht feststellen, dass direkt hinter mir Ghaleb Chatha saß, an dem mein Blick abprallte.
    Souhef fuhr fort, zwangloser, als freute es ihn, dass sein temperamentvoller Vortrag unsere Aufmerksamkeit erregt hatte.
    »Gestern, meine muslimischen Mitbrüder, habe ich mich selbst verletzt. Bei der Reparatur der Spüle in der Küche wollte ich mit einer Zange ein Rohr abschrauben. Ich rutschte mit der Zange ab und schlug mit dem Handgelenk an die Kante des Küchenschranks. Ich blutete. Es war sehr schmerzhaft …« Souhef hielt den rechten Handrücken hoch, auf dem ein langer, hässlicher, mit dunklem Blut verkrusteter Schnitt zu sehen war. »Der erste Gedanke, der mit durch den Kopf ging, als ich die Schmerzen spürte, galt meinem Sohn. Er hielt sich nämlich im Zimmer nebenan auf, veranstaltete mit irgendeinem Spielzeug Lärm und sang dazu. Mein erster Gedanke war, es war sein Fehler, dass ich mich verletzt habe. Durch sein Singen hatte ich mich nicht konzentrieren können … und deswegen litt ich jetzt Schmerzen … Also schrie ich ihn an und befahl ihm, den Mund zu halten!«
    Souhef zeigte erst auf uns und dann auf sich selbst.
    »Natürlich lag ich damit falsch. Meine Verletzung hatte nichts mit meinem Sohn zu tun. Er hatte nur gespielt, er hatte gesungen und war glücklich. Wie konnte es seine Schuld gewesen sein, wenn mir die Zange abrutschte und ich mich an der Kante stieß? Es war nicht seine Schuld gewesen. Aber mein Gefühl sagte mir, dass dem so wäre. Und ich zweifle nicht, dass jeder hier so etwas schon mal erlebt hat …«
    Eifriges Nicken und zustimmendes Gemurmel.
    »Den ganzen Tag dachte ich darüber nach. Über meine Schmerzen. Und über die Ungerechtigkeit, die ich meinem Sohn zugefügt hatte. Ich möchte euch nicht vorenthalten, was mir durch den Kopf ging.« Erneut hielt Souhef inne und veränderte seine Position. »Ich möchte noch einmal beschreiben, was mir widerfahren war, damit wir es besser verstehen: Brüder und Schwestern, die Schmerzen, die ich hatte, als ich mit der Zange abrutschte, diese Schmerzen erschienen mir ungerecht. Ich fühlte mich in diesem Augenblick als Opfer, Opfer von etwas, das ich nicht verdient hatte. Und dieses Gefühl, mir wäre ein Unrecht widerfahren, veranlasste mich, nach einem Schuldigen zu suchen. Der Einzige, den ich finden konnte, war mein Sohn … denn sonst war niemand da. Er hatte gesungen und auf sein Kissen

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