Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
mich mit ihr an den Küchentisch, zwischen uns die leuchtenden Marmeladengläser. »Ich habe im Lauf meines Lebens schon viele Gläubige kennengelernt, ganz verschiedene. Manche waren ehrlich und gut, andere haben ihre Religion als Ausrede benutzt, um die übrige Menschheit zu hassen oder anderen ihre Regeln aufzuzwingen.«
Alyssa seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen. Meine Mutter ist wie besessen von solchen Kleinigkeiten. Aber die wirklich wichtigen Dinge interessieren sie nicht. Bei ihr heißt es immer nur: Man soll nicht auf dem Bauch schlafen, oder: Man darf sich nicht schminken, oder: Man darf nicht mit Jungen reden, oder: Das darf man nicht anziehen, und das darf man nicht essen, man darf das nicht sagen, und da darf man nicht hingehen. Mein Großvater sagt, Allah ist es egal, was man isst oder anzieht, solange man nur das Herz auf dem rechten Fleck hat und füreinander sorgt.«
»Ich mag deinen Großvater.«
»Ich mag ihn auch«, sagte Alyssa. »Aber seit er und mein Vater sich gestritten haben, sehe ich ihn nicht mehr so oft.«
»Warum haben sie sich gestritten?«
»Mein Großvater hat etwas gegen den niqab. Er ist überzeugt, in der Schule sollen die Mädchen keinen tragen. Es gefällt ihm nicht, dass Sonia einen trägt. Früher hat sie das auch nicht getan.«
»Warum trägt sie dann jetzt ein Kopftuch?«
»Vielleicht ist sie so wie Joséphine«, antwortete Alyssa mit einem Achselzucken. »Vielleicht hat sie etwas zu verbergen.«
Während Alyssa und ich das Abendessen vorbereiteten, dachte ich über diese Theorie nach. Die Pfannkuchen waren nicht aufwendig, nur musste der Teig, den ich nach einem alten Rezept machte, mit Buchweizenmehl und mit Cidre statt Milch, ein paar Stunden stehen. Man isst diese Pfannkuchen entweder ohne alles oder mit gesalzener Butter, Würstchen, Ziegenkäse, Zwiebelmarmelade oder confit de canard mit Pfirsichen. Ich musste an den Abend denken, als ich Pfannkuchen für Roux und die Flusszigeuner gemacht hatte.
Es war der Abend, an dem ihre Boote in Brand gesetzt wurden. Ich sehe das noch ganz deutlich vor mir: Die Funken zischten durch die Luft wie Feuerwerkskörper, Anouk tanzte mit Pantoufle und Roux – Roux, so wie er damals war, ein junger Mann, der lachte und Witze machte, die langen Haare mit einem Stück Schnur zusammengebunden, barfuß auf dem Anlegesteg.
Joséphine war natürlich nicht dabei. Die arme Joséphine, in ihrem Schottenkaromantel, den sie bei jedem Wetter trug, die Haare so frisiert, dass man ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte und folglich auch nicht die blauen Flecken. Die arme, argwöhnische Joséphine, die keinem Menschen traute und schon gar nicht den Flusszigeunern, denn diese machten, was sie wollten, fuhren sorglos den Fluss entlang, erfanden sich selbst und ihr Leben neu, wie es ihnen gefiel, überall da, wo sie zufällig ihre Boote vertäuten. Später, nachdem sie Paul-Marie und seinen Misshandlungen entkommen war, verstand sie allmählich, welchen Preis man für diese Freiheit bezahlen muss. Roux’ Boot, nur noch ein ausgebranntes, verkohltes Gerippe, seine Freunde, die ohne ihn weiterzogen. Der Hass, den die Dorfbewohner all jenen entgegenbringen, die nach ihren eigenen Regeln leben, die öfter die Sterne sehen als irgendwelche Straßenlaternen, die keine Steuern zahlen, nicht in die Kirche gehen und sich auch sonst nicht in die Gemeinschaft einfügen. Weil sie selbst eine Außenseiterin war, gefiel ihr das. Und weil sie kinderlos war, weckte Roux die Muttergefühle in ihr. Ich dachte damals, sie könnten mehr als Freunde sein, und doch –
Du wolltest ihn für dich haben, Vianne. Was ist daran so schlimm?
Das war jetzt nicht die Stimme meiner Mutter. Auch nicht die von Armande Voizin. Nein, es ist Zozie de l’Alba, die mit mir redet. Sie taucht immer noch gelegentlich in meinen Träumen auf. Zozie de l’Alba, die mir das Leben gerettet hat, weil sie selbst es haben wollte. Zozie, der Freigeist, die Diebin der Herzen. Ihre Stimme kann ich nur schwerlich ignorieren – schwerer als die Stimmen meiner anderen Flüsterer.
Du wolltest ihn. Du hast ihn dir genommen, Vianne. Joséphine hatte keine Chance.
Obwohl Zozie hinterhältig und gemein sein konnte, gab sie mehr Wahrheiten als Lügen von sich. Sie hielt uns den Spiegel vor, zeigte uns unsere verborgenen Gesichter. Jeder hat seine dunklen Seiten, das weiß ich, mein ganzes Leben schon kämpfe ich dagegen an. Aber bevor ich Zozie begegnet bin, wusste ich nicht, wie viel Dunkelheit
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