Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Erziehung bedeutet und wie schwierig es ist, für jemanden die Verantwortung zu tragen. Ich habe dir nur beigebracht, wie man überlebt, aber nicht, wie man lebt. Anstatt dir etwas zu erklären, habe ich dich oft abgewimmelt. Ich habe dir meinen Willen aufgezwungen, anstatt dir zu sagen, warum etwas sein muss. Ich habe immer noch den unfolgsamen kleinen Bengel in dir gesehen … Weil ich mir nicht eingestehen wollte, dass ich es längst nicht mehr mit dem hilflosen kleinen Jungen auf dem Bahnsteig der Moskowskaja zu tun hatte. Ich hatte Angst davor, dass du erwachsener und letzten Endes genauso gefühlskalt und eigenbrötlerisch wirst wie ich! Ich hatte furchtbare Angst davor, dass ich es nicht hinbekomme … Dass ich es nicht schaffe, dir den Vater zu ersetzen …«
Die wirre Beichte brachte nicht die erhoffte Erleichterung. Es war einfach zu viel, was Taran auf der Seele lag. Deshalb fasste er sich ein Herz, endlich die ganze Wahrheit auszusprechen.
»Wenn ich nur gewusst hätte … Wenn ich sicher gewesen wäre, dass du es verstehst … Dass du über den Verlust hinwegkommst … Dann hätte ich dir sofort vom Tod deines Vaters erzählt … Aber damals habe ich mich nicht getraut. Ich wollte nicht … Wie soll ich sagen? … Ich wollte dir ein Trauma ersparen. Und dann …« Taran stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann sind die Probleme zu einer Lawine angeschwollen, und ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht …«
Der Stalker starrte auf seine zitternden Hände und versteckte sie hastig unter den Beinen.
»Die Wahrheit hast du trotzdem erfahren. Aber so, wie das abgelaufen ist … Ich werde mir nie verzeihen, was ich damals gesagt habe … Selbst wenn du es mir irgendwann verzeihst …« Taran sprach immer leiser. »Dein Vater war ein starker Mensch. Authentisch. Ich habe nur ein paar Minuten mit ihm gesprochen, aber seinen Blick werde ich nie vergessen. Er strahlte Lebensmut und totale innere Freiheit aus. Das Einzige, was die Veganer ihm nicht nehmen konnten …«
Der Stalker wurde unsicher und hatte schon das Gefühl, ins Leere zu reden, als plötzlich …
»Warum hast du das nicht schon eher erzählt?«
Tarans Herz begann schneller zu schlagen, als er Glebs schüchterne, heisere Stimme hörte.
»Alles aus demselben Grund. Weil ich Angst hatte, dass ich es nicht schaffe, ein würdiger Ersatz für deinen Vater zu sein. Ich bin doch vollkommen anders als er. Im Unterschied zu ihm habe ich aufgehört, an irgendetwas zu glauben, habe diese Niederlage akzeptiert und mich damit abgefunden. Ich war schon lange der Meinung gewesen, dass es dumm ist, sich in diesem Leben irgendwelche Hoffnungen zu machen. Doch seit ich dich kenne, hat sich alles verändert. Seither verspüre auch ich den Wunsch, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen und an das Gute zu glauben, und …«
Abermals stockte der Stalker beim Versuch, jenes tiefe Gefühl in Worte zu fassen, das er schon lange in seinem Herzen mit sich herumtrug, ohne es sich selbst einzugestehen …
Aus dem Cockpit drang Auroras helle Stimme, und im selben Moment fielen dem Stalker wie aus heiterem Himmel die Worte des Mädchens wieder ein:
Es bringt nichts, nach passenden Worten zu suchen. Steh wenigstens einmal im Leben zu dem, was du wirklich empfindest. Behalte es nicht für dich, sondern sprich es offen aus. Und Gleb wird dir zuhören.
»Ich habe das noch nie ausgesprochen. Ich dachte, das sei ein Zeichen von Schwäche … Wie dumm … Ich habe viele Fehler gemacht in meinem Leben. Und du hast mir mehrfach vor Augen geführt, dass ich auch nach wie vor Fehler mache … Besonders wenn es darum geht, ein Vertrauensverhältnis zu dir aufzubauen …« Taran schloss die Augen und ließ sich von der Strömung mitreißen. »Kann sein, dass ich viele dieser Fehler im Affekt begangen habe. Aber das beweist doch nur, wie sehr … wie sehr ich dich liebe, mein Sohn.«
Der Stalker wagte kaum zu atmen. Er machte nicht einmal die Augen auf. Aber das war auch gar nicht nötig. Mit unvorstellbarer Freude spürte Taran, wie sich etwas Warmes und Weiches an seine Brust warf … Wie Kinderarme innig seinen Hals umschlangen … Wie jener schwerelose Körper von einem lautlosen Weinkrampf geschüttelt wurde …
»Ist schon gut, Gleb. Alles ist gut. Du bist doch schon so groß. Und Erwachsene weinen nicht!«
Während der Stalker den Jungen unbeholfen in den Armen wiegte, überkam ihn ein grenzenloses Glücksgefühl. Alle Sorgen und Zweifel lösten sich in Luft auf, und
Weitere Kostenlose Bücher