Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Schuss krachte und Chitinsplitter gegen das Gitter spritzten. Als er den Kopf hob, klebte nur noch ein Schleimbatzen am Käfig und der rüsselartige Auswuchs baumelte von einem Gitterstab herab. Mehr war nicht mehr übrig von dem ungebetenen Gast.
Der unselige Aufkleber lag immer noch am Rand der Plattform. Es konnte ihn jeden Moment in die eisige Finsternis hinauswehen.
Gennadi war inzwischen wieder auf den Beinen und gab mit einem Handzeichen in Richtung des Containers Entwarnung. Gleb drehte den Kopf und spähte in die Dunkelheit. Im Aussichtskäfig auf dem Dach des Wohncontainers entdeckte er die Silhouette des Schützen mit angelegtem Gewehr.Taran war wie immer auf Nummer sicher gegangen.
»Für heute reicht’s mir«, schimpfte Dym, klopfte sich den Schnee ab und blickte mürrisch auf die kaputte Winde. »Wir machen das morgen fertig. Es hat keinen Sinn, in der Dunkelheit herumzuwursteln.«
Taran erwartete sie an der Schwelle des Schleusenraums. Gleb nahm erleichtert die Gasmaske ab, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht und sah seinen Vater schuldbewusst an. Doch der machte keinerlei Anstalten, ihn zu rüffeln. Im Grunde gab es ja auch keinen Grund dazu. Schließlich hatte der Stalker ihm den Ausflug ausdrücklich erlaubt.
»Beinahe hätten wir uns eine ›Zecke‹ eingefangen«, wetterte Dym, während er den Werkzeugkasten auf den Boden knallte. »Was für ein Riesenvieh!«
Die Sorge in Tarans Gesicht wich unverhohlener Neugier, als er das Stück Papier in der Hand seines Stiefsohns entdeckte. Als Gleb das bemerkte, legte er die Trophäe auf den Tisch.
»Der Aufkleber von dem Souvenirteller«, erklärte er. »Aus Kronstadt, weißt du noch?«
Die Bucht mit den majestätischen Schiffen, der beleuchtete Hafen, die Häuserblöcke … Der Stalker kannte das Panoramabild aus der Vergangenheit gut. Gleb hatte es abends oft herausgeholt und voller Sehnsucht betrachtet.
»Hast du es irgendwann mal Tjorty gezeigt?«, erkundigte sich Taran wie beiläufig.
Der Junge hatte plötzlich ein klares Bild vor Augen: der mit Unterlagen übersäte Holztisch in Terentjews verstaubtem Büro, darauf ein gesprungenes Glas mit Teekrümeln am Boden, das Plastikgehäuse der Zeitschaltuhr, die er dem Chef der Sennaja aufs Auge gedrückt hatte, weil er sie peinlicherweise mit einer normalen Tischuhr verwechselt hatte und – daneben – der Aufkleber!
Er war mit herausgerutscht, als er das »Geschenk« aus der Tasche holte! Terentjew hatte ihn in die Hand genommen und neugierig betrachtet, noch während er Gleb wegen der Zeitschaltuhr zusammenstauchte.
Als der Junge seine Erinnerungen mitteilen wollte, wusste Taran längst, was Sache war. Er hatte es seinem Stiefsohn an den Augen abgelesen.
»Tja … Da muss man auch erst mal drauf kommen. Jetzt wissen wir wenigstens, wo wir das Forschungslaboratorium suchen müssen. Tjorty ist aber auch ein verdammter Geheimniskrämer. Warum hat er nicht gleich gesagt, dass es um ein Bild geht?«
Die anderen Expeditionsmitglieder sahen einander mit großen Augen an und verstanden nur Bahnhof.
»Freust du dich denn gar nicht, Gleb?« Der Stalker deutete mit dem Kopf auf das Panoramabild. »Davon hattest du doch immer geträumt – nicht wahr?«
Nun waren die Augen der ganzen Mannschaft auf das Corpus Delicti gerichtet. Vom herrlichen Panorama der Hafenstadt, das der Junge längst in- und auswendig kannte, wanderte sein Blick auf den geheimnisumwobenen Namen, der darunter stand: WLADIWOSTOK .
3
DIE WOLKE
Schnee, so weit das Auge reichte. In der Stadt war er in tristes Grau gefärbt – durch den Betonstaub und den Ruß, der von den Ruinen wehte. Hier dagegen war er makellos weiß und glitzerte in den Sonnenstrahlen, die sich hin und wieder durch die Wolken kämpften. Wie eine flauschige Decke überzog er die Schneise im Wald, kaschierte die Ecken eines an den Rand geduckten Gebäudes und glättete Wellen im Gelände. Straßengräben, Böschungen und Streckenpfosten hatte er vollends unsichtbar gemacht. Nur die Strommasten, von denen vereiste Kabel wie Fransen hingen, gaben einen Hinweis darauf, dass sich unter der Schneedecke die Chaussee befand. Durch die Windstille, die in dieser Gegend selten war, und die absolute Lautlosigkeit, die nur das Knistern der Zweige im Frost durchbrach, wirkte die ohnehin beschauliche Landschaft besonders friedvoll und ruhig.
Allerdings hatte diese trügerische Schönheit etwas Unnatürliches. Die einlullende Stille des idyllischen Orts barg
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