Hinter der Nacht (German Edition)
aufschlägt. Ein überraschter Ausdruck breitet sich auf
seinem Gesicht aus, und er senkt die Augen zu seiner Brust.
Ich folge seinem
Blick und schnappe nach Luft. Dort, genau auf Höhe seines Herzens, ragt ein
schwarzer Griff aus seinem Brustkorb. Ein dunkler Fleck breitet sich darunter
aus und wird schnell größer.
Und dann sackt
er plötzlich in sich zusammen. Mit einem letzten Stöhnen knallt er auf den
Felsen, wo er unbewegt liegen bleibt. Er ist tot. Clarissa hat ihn erstochen.
„Mike!“ Mit
diesem Schrei stürzt Clarissa erneut zu der Stelle am Klippenrand, an der er
verschwunden ist, und macht Anstalten, hinterher zu springen.
„Nicht da!“,
schreie ich sie an. „Nimm den Pfad!“
Sie erwidert
kein Wort, sondern dreht sich auf dem Absatz um, rennt wieder an mir vorbei und
erklimmt dann in einem wahren Höllentempo den Felsen, der hinauf zum
Klippenpfad führt. Dann sehe ich sie oben in der Dunkelheit davon rennen.
Auf einmal fühle
ich mich unendlich müde. Mit dem Tempo, in dem sich all diese verrückten
Geschehnisse ereignen, kann ich nicht mithalten. Das ist mir auch noch nie
passiert.
Ratlos betrachte
ich die beiden Wächter. Der Mann ist tot, der wird uns keinen Ärger mehr
machen. Aber was sollen wir mit ihr tun? Ich habe den Schock über die
Erkenntnis, wer die zweite Wächterin ist, noch nicht verdaut. Aber damit kann
ich mich später befassen. Jetzt muss ich erst einmal sicherstellen, dass sie
uns nicht entkommt. Ich nehme das Seil, mit dem sie mich gewürgt hat und das
jetzt unbeachtet auf dem Boden liegt, und binde ihr die Hände und Füße
zusammen. Das muss fürs Erste reichen. Dann folge ich Clarissa.
Der Pfad führt
eine kurze Strecke am Klippenrand entlang und schlängelt sich dann zum Meer
hinunter. Ein schmaler Streifen steiniger Strand liegt zwischen den Klippen und
dem Wasser.
„Mike? Bist du
hier?“ Schon von weitem höre ich Clarissa rufen. Ich bleibe stehen und lausche.
Und dann höre
ich seine Stimme, ein Stück von uns entfernt. „Clarissa!“ Er klingt geschwächt,
aber wenigstens lebt er.
„Mike!“,
schreit, nein, schluchzt sie. Dann sehe ich sie wie eine Wilde auf eine dunkle
Gestalt zu rennen, die jetzt den Strand entlang auf uns zu stolpert. Er bleibt
stehen und sie fliegt in seine Arme. Dann höre ich sie an seiner Brust weinen.
Ein dumpfer
Schmerz durchfährt mich und betäubt alles in mir. Zornig gehe ich mit mir
selbst ins Gericht. Es ist falsch! Ich darf so nicht fühlen! Ich habe kein
Recht darauf! Meinetwegen ist sie fast gestorben, und trotzdem ist sie (woher
auch immer) gekommen, um mich zu retten. Und er hat ihr geholfen. Es ist nur
richtig, dass sie ihn liebt! - Aber die Leere in mir lässt sich nicht
vertreiben.
Erst nach einer
Ewigkeit scheint sie langsam zu sich zu kommen und wieder etwas von ihrer
Umgebung wahrzunehmen. Sie löst sich von Mike, hält ihn auf Armlänge von sich
entfernt und sieht ihn besorgt an.
„Du bist ja
klatschnass! Und eiskalt!“
Er lacht
gequält. „Ehrlich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Dann sieht er mich und
nickt in meine Richtung. „He, danke auch, Mann!“
„Scheiße!“,
fahre ich auf. Meine Nerven sind gerade nicht die stärksten. „Kann ja keiner
ahnen…“
Er unterbricht
mich müde: „Reg’ dich ab, okay? Ist schon in Ordnung. Ich kann ja selbst kaum
glauben, dass ich das getan habe!“ Er schaudert. „Das war das Schlimmste, was
ich jemals getan habe. – Clarissa!“ Ernst sieht er sie an. „Verlang so etwas
niemals wieder von mir!“
Sie schüttelt
den Kopf. „Nur, wenn es nicht anders geht! Aber ich wusste nicht, was ich tun
sollte. Dieser Kerl…“ Abrupt verändert sich ihre Miene. Alles Blut weicht ihr
schlagartig aus dem Gesicht und sie wird leichenblass. „Oh nein“, flüstert sie
tonlos und sieht mich mit schreckgeweiteten Augen an. „Nathanael. Ist er…“ Ihre
Stimme versagt.
Erst jetzt
scheint Mike, der mittlerweile angefangen hat, in der Kälte zu zittern, sich an
die beiden Wächter zu erinnern. Fragend sieht er mich an. „Was ist mit ihnen?“
„Patti ist
ohnmächtig“, erwidere ich. „Ich habe sie gefesselt. Und der andere…“ Ich will
es nicht aussprechen. Nicht vor Clarissa.
Aber sie weiß es
auch so. „Er ist tot, oder?“, fragt sie heiser und schaut dabei nur mich an.
Ich nicke.
Sie schlägt die
Hände vors Gesicht und krümmt sich zusammen. „Ich habe ihn umgebracht! Ich habe
einen Menschen getötet! Oh mein Gott, was habe ich nur
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