Hinter der Nacht (German Edition)
wann wo und mit wem taten – auch wenn gerade
das für mich kein Problem gewesen wäre. Denn es gab kein „Mit wem“, und das
„Was“, „Wann“ und „Wo“ war völlig solide. Tatsache war nämlich leider, dass ich
eine echte Außenseiterin war. Zwar ließ man mich dank meiner Karatekenntnisse
in Ruhe, aber niemand machte sich die Mühe, meine von mir selbst um mich herum
errichtete Mauer zu durchbrechen. Und ich hatte mich an das Alleinsein gewöhnt.
Statt mit lebenden Menschen füllte ich meine Welt mit den Figuren der Bücher,
die ich leidenschaftlich gerne las. Dazu hatte ich genug Ruhe. Ruhe, die nun
aus heiterem Himmel von Amandas zweitem Frühling gefährdet wurde.
Die folgenden
Wochen vergingen viel zu schnell. Amanda und Phil hatten es unheimlich eilig,
so, als wollten sie mir keine Chance geben, mir doch noch irgendwelche
Hinderungsgründe für ihre Eheschließung auszudenken. Zugegeben, ich dachte an
nichts Anderes. Aber leider hatte ich keine zündende Idee, und so brach viel zu
früh das Hochzeitswochenende an. Am liebsten wäre ich der ganzen Veranstaltung
fern geblieben, aber das kam natürlich nicht in Frage. Und so ging ich am
Freitagabend mit dem Gefühl zu Bett, dass mein Leben, so wie ich es seit 17 Jahren
kannte, am nächsten Tag ein jähes und leider nicht sehr glückliches Ende finden
würde.
Ich träumte. Es
war ein seltsam lebendiger Traum. Viel echter als all meine Träume zuvor, auch
wenn er ausschließlich von Personen und Orten handelte, die ich noch nie
gesehen hatte. Zwei Dinge blieben mir besonders im Gedächtnis. Zum einen die
beiden Engel, ein heller und ein dunkler. Ich wusste nicht, wer sie waren, aber
sie schienen mir etwas Wichtiges mitteilen zu wollen. Sie sahen mich
beschwörend an, doch es kam kein Wort über ihre Lippen. Und zum anderen das
Gefühl, etwas unglaublich Schönes, absolut Lebensnotwendiges verloren zu haben.
Etwas, von dem ich wusste, wenn ich es nicht wiederfände, würde mein Leben für
immer leer und sinnlos bleiben. Ich erwachte schweißgebadet, mit klopfendem
Herzen und Tränen in den Augen. Und mit dem beklemmenden Gefühl, dass das viel
mehr als nur ein gewöhnlicher Traum gewesen war.
Ich duschte
heiß. Dann zog ich mir die Klamotten an, die ich mir extra für diese
Gelegenheit zugelegt hatte. Schwarz. Der perfekte Gegensatz zum unschuldigen –
und völlig unangemessenen – Weiß meiner Mutter.
Die traf fast
der Schlag, als sie mein Outfit begutachtete. „Du siehst aus, als wolltest du
auf eine Beerdigung gehen!“, kritisierte sie.
Ich ersparte mir
eine Antwort. Ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass ich mich genau so fühlte.
Und zwar auf meine Beerdigung. Die Beerdigung meines bisherigen Lebens.
Auch der Pfarrer
in der Kirche warf mir einen irritierten Blick zu, als ich mit
Leichenbittermiene in der ersten Reihe Platz nahm, gleich hinter dem
glücklichen Brautpaar. Dann jedoch konzentrierte er sich auf seine Zeremonie.
Während das
Unglück seinen Lauf nahm, kehrten meine Gedanken wie von selbst zu meinem nächtlichen
Traum zurück. Die Gesichter, die ich gesehen hatte, waren inzwischen verblasst,
aber noch immer sah ich ihre Augen vor mir. Ein Paar grün, das andere schwarz
mit silbernen Funken. Und beide sahen mich beschwörend an. Wahrscheinlich war
es dieser Eindruck, der mir den Traum so besonders erscheinen ließ.
Normalerweise sah mich nie jemand an, sondern höchstens durch mich hindurch.
Dieses ungeteilte Interesse war ich absolut nicht gewöhnt. Im wirklichenLeben
würde mir so etwas jedenfalls wohl nie begegnen.
Ich fing einen
der Blicke auf, die Philipp meiner Mutter zuwarf, und plötzlich fühlte ich fast
so etwas wie Neid in mir aufsteigen. So wenig es mir in den Kram passte – meine
Mutter hatte zumindest jemanden, dessen Interesse nur ihr galt. Vielleicht war
das, was sie gerade tat, ja doch nicht so dumm. Auch wenn ihr „Phil“ nicht
gerade meiner Vorstellung eines Traummanns entsprach, so schien er sie doch
glücklich zu machen. Und das war mehr, als ich vermutlich jemals haben würde.
Der Pfarrer war
mittlerweile bei der Lesung angelangt. Das Hohelied der Liebe. Wenn ich mit
Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich
ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden
könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben,
so dass ich Berge versetzen könnte und hätte die Liebe nicht, so wäre ich
nichts. Und wenn ich alle
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