Hinter der Nacht (German Edition)
nur
schlafend gestellt hat.
„Keine Ahnung.
Ich weiß nicht, was sie geschrieben hat. Ich bin nur der Überbringer. – Und
übrigens“, fährt er fort, bevor ich etwas sagen kann, „eigentlich darf ich dir
diesen Brief überhaupt noch nicht geben. Ich musste ihr sogar versprechen, dass
du ihn erst hinterher bekommst. Aber irgendwie habe ich gedacht, dass du ihn
vielleicht gern jetzt schon hättest.“ Er klingt gleichgültig, aber unter seiner
lässigen Stimme lauert etwas anderes. Bewegung. Anteilnahme. Mitgefühl?
Ich bin zutiefst
beunruhigt. „Aber – was hat sie denn vor? Und warum?“
„Was sie vorhat?
Sie schickt mich zurück in die Vergangenheit, wo ich dafür sorgen soll, dass sie
gar nicht erst hierher kommt. Du solltest wissen, wie man so was macht. Und
warum? Hmm. Lass mich mal überlegen…“ Er misst mich ironisch von Kopf bis Fuß.
„Tja, ich weiß auch nicht, wer sie auf diese Idee gebracht haben könnte. War es
möglicherweise derselbe, der ihr gesagt hat, dass er ihr am liebsten niemals
begegnet wäre?“
Die Reue packt
mich ohne Vorwarnung und ohne Gnade. „Aber – das habe ich doch nicht ernst
gemeint“, wehre ich mich schwach. „Das war doch nur im Affekt! Natürlich bin
ich froh, dass ich sie getroffen habe. Das muss sie doch wissen!“
„Ach ja? Und
woher?“
Ich weiß keine
Antwort. Nur, dass er mit allem recht hat, was er mir vorwirft. Und, dass ich
sie auf keinen Fall verlieren will. Dass ich es lieber mit allen Wächtern
dieser Welt aufnehmen würde, als sie nicht kennenzulernen.
„Du darfst das
nicht tun!“, funkele ich Mike an.
Er lässt sich
nicht aus der Ruhe bringen. „Und wieso nicht? Sag mir nur einen guten Grund,
warum ich das Versprechen, das ich ihr gegeben habe, brechen sollte.“
„Weil du es
schon getan hast“, gebe ich zurück. „Du hast mir ihren Brief gegeben. – Warum
eigentlich?“
„Wie gesagt, ich
dachte, du hättest ihn vielleicht gern vorher.“
Plötzlich gebe
ich mich geschlagen. Mike bin ich nicht gewachsen. Er hat nicht den geringsten
Grund, mir freundlich gesonnen zu sein, im Gegenteil - ich habe stets auf ihm
herumgehackt und sogar versucht, seinen Vater zu töten, und seiner Freundin
habe ich so ziemlich alles Schlechte angetan, was man sich nur denken kann. Und
doch rettet er mir nun schon zum zweiten Mal die Haut. Ich bin beschämt. So
etwas hätte ich für ihn niemals getan.
Mühsam räuspere
ich mich. „Eh – danke. Für alles. Und – tut mir leid.“
Mike sieht mich
überrascht an, winkt dann aber ab. „Vergiss es. Was tut man nicht alles für
seinen…“ – er zögert kurz und setzt dann leise hinzu – „…Bruder. - Auch wenn er
der allerletzte Hornochse ist!“
Wow . Mir
fällt nichts mehr ein. In meinem Gehirn herrscht absolute, hundertprozentige
Leere.
Mike tut so, als
bemerke er die Wirkung seines Eingeständnisses nicht. „Also, wie sieht’s jetzt
aus? Kommst du mit?“
„Meinst du
nicht, du solltest mir vorher noch das ein oder andere erklären?“, erwidere
ich.
Und das tut er.
Seine Geschichte klingt vollkommen unmöglich. Und gerade deswegen glaube ich ihm
jedes Wort. Das hätte er sich niemals ausdenken können.
„Wie seid ihr
drauf gekommen?“
„Das meiste
haben Clarissa und ich uns selbst zusammengereimt. Alles in allem hast du dich
nicht gerade unauffällig benommen. Ein Wunder, dass diese Wächter so lange
gebraucht haben, bis sie dich gefunden haben. Und den Rest hat uns dann –
jemand erzählt.“
Ich brauche
einen Moment, bis mir klar wird, von wem er spricht. „Dein Vater“, murmele ich.
„ Unser Vater“, korrigiert er und sieht mich herausfordernd an.
Mir läuft ein
Schauer den Rücken hinunter, und ich spüre, wie sich meine Nackenhaare
aufstellen. Automatisch will ich ihm widersprechen, ihm sagen, dass dieser
Mensch niemals mein Vater sein kann, nicht im wahren Sinn des Wortes – doch
dann besinne ich mich. Immerhin habe ich inzwischen am eigenen Leib gespürt,
dass menschliche Gefühle viel stärker sind, als ich ihnen zugetraut habe. Und
wie kann ich ihn für etwas verurteilen, wogegen selbst ich mich nicht wehren
kann? Liebe. Oder das, was die Menschen dafür halten.
Ich verstehe
dieses Gefühl immer weniger. Clarissa hat es dazu gebracht, auf alles
verzichten zu wollen, was ihr wichtig ist. Meine Mutter hat es dazu gebracht,
alles zu vergessen, an was sie glaubt. Aber es hat sie auch dazu gebracht, für
mich ein Leben in Einsamkeit zu führen. Und wenn Mikes
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