Hinter der Nacht (German Edition)
doch ein echter
Braungurt.“
Ich grinste
gequält. Dann wendete ich mich Arik zu und verbeugte mich so knapp wie möglich
vor ihm. Etikette ist Ehrensache beim Karate, selbst wenn man es mit einem
Kotzbrocken wie diesem zu tun hatte. Ich hätte es mir allerdings denken können,
dass Ehre ihn nicht weiter interessierte, denn er ließ mich grußlos stehen.
Okay, ich war nicht wirklich überrascht. Trotzdem ärgerte ich mich. Womit
hatte ich es nur verdient, einem so ungehobelten Klotz zu begegnen?
„Wow,
Clarissa!“, empfing mich Mike, als ich nach dem Abschiedsgruß zu ihm ging. „Ich
bin schwer beeindruckt! Von jetzt an werde ich dich wohl besser mit
Samthandschuhen anfassen, was?“ Er grinste von einem Ohr zum anderen, und ich
merkte, wie meine schlechte Laune verpuffte. Einem charmanten Mike hatte ich
noch weniger entgegenzusetzen als einem genervten.
„Genau, sonst
kriegst du eins auf die Nase!“, entgegnete ich mit finster drohender Stimme und
deutete einen Ellenbogenstoß in die Rippen an. Er krümmte sich übertrieben,
dann legte er mir freundschaftlich den Arm um die Schultern. Ich zuckte
zusammen. Jetzt übertrieb er es aber wirklich mit der Nettigkeit! Unauffällig
drehte ich mich zur Seite, so dass sein Arm wieder von meiner Schulter
rutschte. Trotzdem konnte ich es nicht verhindern, dass mir die Röte ins
Gesicht schoss. Als mein Blick bei diesem Manöver zufällig auf Arik fiel,
verpuffte auch der Rest meines Hochgefühls wieder. Er starrte uns finster aus
zusammengekniffenen Augen an, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Ein
undefinierbarer Ausdruck lag auf seinem Gesicht, und hätte ich es in Anbetracht
seiner so offen zur Schau getragenen Arroganz nicht für absurd gehalten, hätte
ich fast den Eindruck gehabt, er sei erschrocken.
Beim Verlassen
der Halle konnte ich es mir nicht verkneifen, noch einmal einen kurzen Blick
zurückzuwerfen. Arik stand immer noch da und sah uns nach. Jetzt wirkte er
allerdings nicht mehr nur finster, sondern auch noch nachdenklich. Sehr, sehr
nachdenklich. So, als würde er über ein äußerst schwieriges Problem
nachgrübeln.
Arik
„Sieh genau hin.
Und traue nie deinem ersten Eindruck.“ Von klein auf hat meine Mutter mir diese
Weisheit eingetrichtert, und doch muss ich an diesem Nachmittag angewidert
feststellen, wie oberflächlich ich inzwischen geworden bin und wie weit ich
mich von der Welt meiner Kindheit entfernt habe.
Die erste
Überraschung ist das Mädchen.
Mein erster
Eindruck von ihr: klein, farblos und hoffnungslos fehl am Platz. Egal, an welchem Platz. Einfach überall. Sie hätte mir möglicherweise leid getan – früher,
als ich noch solche Gefühle hegte. Jetzt sind mir solche Menschen mehr als egal
- zu unwichtig, um mich auch nur eine Sekunde lang mit ihnen zu beschäftigen.
Außer, wenn sie mich einfach nicht in Ruhe lassen. Und mir ständig ungefragt
auf die Nerven gehen. So wie sie.
Als sie beim
Karate so unerwartet vor mir steht, würde ich sie am liebsten sofort
niederstrecken. Was will sie hier? Wieso taucht sie überall dort auf, wo ich
bin? Wenn sie nicht so offensichtlich total ungeeignet wäre, hätte man fast
meinen können, sie sei eine von ihnen. Aber auch wenn dieser Gedanke
kurz in mir aufblitzt und die Indizien durchaus dafür sprechen, verwerfe ich
diese Idee doch sofort wieder. Sie sind eine Eliteeinheit. Und diese Kleine
und Elite – das ist einfach zu lächerlich. Wie gesagt – ich vergesse völlig,
dass der erste Eindruck oft nicht der richtige ist. Aber selbst, als sie auf
einmal ungeahnten Kampfgeist entwickelt und ich zugeben muss, dass sie
zumindest beim Karate nicht total falsch ist, komme ich nicht auf die Idee,
meinen Gesamteindruck von ihr zu revidieren.
Ihr Freund ist
mein zweiter Fehler.
Wahrscheinlich
bin ich ihm schon mehrfach über den Weg gelaufen, aber ich habe ihn mir nie
wirklich angesehen. Auch nicht an dem Morgen auf dem Parkplatz. Hätte ich es
getan, vielleicht wäre ich schon viel früher an mein Ziel gelangt. Vielleicht
wäre ich ihr dann nie begegnet. Und ich hätte mein Schicksal erfüllen können,
bevor alles anfing, schief zu gehen.
So aber trifft
mich die Erkenntnis, dass die Lösung meines Problems möglicherweise die ganze
Zeit direkt vor meiner Nase herumgelaufen ist und ich sie nur nicht gesehen
habe, an diesem Nachmittag wie ein Blitz. Und endlich – endlich – habe
ich die erste Spur dessen, den ich so lange gesucht habe, gefunden. Die Spur
des Mannes, der
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