Hinter der Nacht (German Edition)
einmal
erleben wollte.
Das Dunkel in
meinem Zimmer erinnerte mich an das gestrige Dunkel auf dem Schulparkplatz, und
wie eine Woge stieg mein Elend wieder in mir hoch. Schnell knipste ich meine
Nachttischlampe an. Doch auch das Licht half nicht viel. Als ich über den vor
mir liegenden Tag nachdachte, wurde mir sogar noch elender. Wie sollte ich nur
Mike gegenübertreten nach unserer gestrigen peinlichen Begegnung? Hatte er mich
tatsächlich küssen wollen? Oder hatte ich mir das auch nur eingebildet? Und
wenn ja – wie sollte ich ihm dann noch unter die Augen treten? Denn ich fand
ihn zwar ganz nett und war froh, dass er mich inzwischen auch leiden konnte,
aber verliebt? Nein, das war ich ganz bestimmt nicht in ihn.
Und Arik? Wie
sollte ich ihmgegenübertreten, nach meiner gestrigen Bemerkung beim
Training? Das war noch viel schlimmer!
Je länger ich im
Bett lag und grübelte, desto mehr drehten sich meine Gedanken im Kreis, und ich
sah keinen Ausweg aus meiner verfahrenen Situation. Nur eins wurde mir immer
klarer, je näher der Zeiger meines Weckers auf meine normale Aufstehzeit
zusteuerte: Einer erneuten Begegnung mit einem der beiden an diesem Morgen
fühlte ich mich einfach nicht gewachsen.
Unvermittelt
sprang ich auf. Ich sauste ins Bad, putzte mir im Rekordtempo die Zähne, fuhr
mir zweimal mit der Bürste durchs Haar und streifte meine Schuluniform über.
Dann stopfte ich mein Sportzeug in die Tasche, schnappte mir meinen Rucksack
und sprintete die Treppe runter.
Mike schlief
noch – zumindest war seine Zimmertür geschlossen und kein Lichtstreifen zu
sehen. Da wir normalerweise mit dem Wagen fuhren, stand er meist erst auf den
letzten Drücker auf. Ich lehnte einen schnell hingekritzelten Zettel an den
Wasserkocher, dass ich heute mit dem Bus zur Schule fuhr. Dann kramte ich in
meinem Portmonee nach ein paar Münzen und zog leise die Haustür hinter mir ins
Schloss.
Die Schule lag
noch still und verlassen da, als ich sie gegen Viertel nach acht erreichte.
Schulbeginn war erst um neun, ich war also viel zu früh, aber das war mir ganz
recht. So konnte ich mir noch einmal in Ruhe das ganze Problem durch den Kopf
gehen lassen. Unterwegs hatte ich mir ein Croissant und einen Becher heißen
Kakao besorgt (der Kaffee in Schottland war wirklich nicht genießbar), mit
denen ich mich auf eine der zahlreichen Bänke auf dem weitläufigen Schulhof
verzog. Auch wenn überall Pfützen auf dem Boden waren, regnete es zum Glück
jetzt nicht mehr, und es war nach wie vor recht mild, so dass ich mit meinen
nackten Beinen nur wenig fror. Trotzdem machte ich mir eine mentale Notiz, dass
ich dringend ein paar Strumpfhosen besorgen musste, bevor es richtig Herbst
wurde. An den Winter wollte ich lieber gar nicht erst denken.
Überraschenderweise
war der Schulhof wirklich schön, im Gegensatz zu dem monströsen kastenförmigen
Gebäude. Überall standen alte Bäume, die bei Sonne angenehmen Schatten und bei
Regen Schutz vor Nässe boten. Meine Lieblingsbank stand unter einer riesigen
Kastanie, die jetzt im September noch von dichtem Blätterwerk bedeckt war. Sie
befand sich ganz am Rand des Schulhofs, und man konnte dort wunderbar
unentdeckt sitzen und das Treiben um einen herum beobachten. Wenn man sich
geschickt platzierte, hatte man sogar einen fast freien Blick auf den
Parkplatz, was ich heute Morgen besonders vorteilhaft fand. So könnte ich Mikes
und Ariks Ankunft bemerken, ohne von ihnen gesehen zu werden, und mich erst
danach mit entsprechendem Sicherheitsabstand zum morgendlichen Appell in die
Aula begeben. Vielleicht würde ich den auch ganz ausfallen lassen. Das war zwar
eigentlich nicht erlaubt, aber was sollte mir schon groß passieren? Schließlich
war ich nur eine Gastschülerin.
Unter dem
dichten Blätterdach der Kastanie geschützt wie in einer grünen Höhle spürte
ich, wie meine Gedanken langsam zur Ruhe kamen. Wenn man hier so ganz allein
oberhalb von Inverness saß und in die ersten Sonnenstrahlen blinzelte, kam
einem die Stadt da unten weit weg vor. Und auch die vielen Menschen, die dort
herumwuselten, verloren an Bedeutung. Im Schutz dieses alten Baums war es ein
bisschen wie in einer anderen Welt. Irgendwie zeitlos.
Nach einer Weile
zerstörte ein langsam lauter werdendes Brummen die Stille. Der erste meiner
Mitschüler schien sich zu nähern. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir,
dass es kurz nach halb neun war. Schade. Jetzt würde es gleich aus sein mit
meiner Ruhe. Neugierig
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