Hinter der Nacht (German Edition)
so schnell ich
nur konnte, zu meinem Spind und zerrte meine Sporttasche, die ich am Morgen achtlos
hineingestopft hatte, raus. Dann warf ich sie mir über die Schulter und
marschierte schnurstracks in Richtung Turnhalle, auch wenn ich wusste, dass ich
noch fast eine halbe Stunde Zeit hatte, bis das Training begann. Aber ich hielt
es in dem stickigen Schulgebäude einfach nicht länger aus.
Zum Glück gab es
vor der Halle ein großzügig bemessenes Dach, wo man sich unterstellen konnte,
denn ansonsten wäre ich mal wieder klatschnass geworden. Schon den ganzen Tag
hatte es geschüttet wie aus Eimern. Natürlich war ich die Erste, die hier
wartete, und ich vertrieb mir die Zeit mit meinen verschiedenen Theorien zu
Arik.
Bisher hatten
meine Beobachtungen zu folgenden Hypothesen geführt: Erstens: Er war schnell.
Möglicherweise konnte er sich einfach viel schneller bewegen als Andere.
Vielleicht war er eine Mutation mit einem besonderen Schnelligkeitsgen?
Schließlich lebte die ganze Evolution von solchen zufälligen Mutationen.
Zweitens: Er lebte allein. Seine Mutter war tot. (Hatte er das wirklich gesagt?
Ich war mir nicht mehr ganz sicher.) Oder zumindest abwesend. Seinen Vater
kannte er nicht. Fühlte er sich deshalb so böse? Weil er sich selbst die Schuld
daran gab, dass seine Eltern ihn verlassen hatten? Drittens: Er –
An dieser Stelle
unterbrach mich eine bekannte, charmante Stimme: „Hallo, Clarissima – ganz
schön früh dran heute, was?“
Mike!
„Hi! Du auch
hier?“
Offensichtlich
meinte er es ernst mit dem Karate, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mich
darüber freuen sollte, dass er weiterhin beim Training dabei war. Ariks starke
Abneigung ihm gegenüber stand mir noch deutlich vor Augen, und mit Mike in der
Nähe würde er nicht gerade vor Charme sprühen.
„Klar! Weißt du,
so langsam habe ich Blut geleckt. Ich habe mir sogar einen Anzug gekauft. Guck
mal!“ Eifrig wie ein kleiner Junge kramte er den Gi aus seiner
Sporttasche und hielt ihn mir vor die Nase. Automatisch befühlte ich den Stoff.
Ziemlich schwer – offensichtlich hatte Mike sich für Qualität entschieden, die
lange hielt. Unbewusst seufzte ich.
Mikes scharfen
Ohren entging nichts. Aufmerksam sah er mich an. „Kann es sein, dass du dich
nicht besonders freust, mich dabei zu haben?“
Ich lächelte
entschuldigend. „Doch, eigentlich schon. Es ist nur – Arik reagiert auf dich so
aggressiv, und ich finde es ganz schön anstrengend, immer zwischen den Fronten
zu stehen.“ Ich konnte nicht verhindern, dass ich bei diesem Geständnis rot
wurde, aber tapfer hielt ich Mikes Blick stand.
Seine Stirn
kräuselte sich. Nach einem Moment fragte er nachdenklich und leicht ungläubig:
„Du magst diesen Typen wirklich, was?“
Ich spürte, wie
meine Röte sich vertiefte.
„Alles klar.“
Mikes Augen waren genauso scharf wie seine Ohren.
Hilflos hob ich
die Hände. „Ich weiß auch nicht, wieso. Es ist - einfach passiert.“ Nachdem es
einmal raus war, fühlte ich mich schlagartig besser. Erleichtert.
(Wahrscheinlich grinste ich deswegen so bescheuert.)
In Mikes Gesicht
kämpften widersprüchliche Gefühle miteinander, doch schließlich siegte seine
Großzügigkeit. „Hey, das ist doch toll für dich. Und - wie sieht’s mit ihm aus?“
Plötzlich freute
ich mich, endlich mit jemandem über Arik sprechen zu können. „Ach, naja. Weißt
du, er ist nicht ganz einfach.“ Na gut, das war stark untertrieben. Ich sah
Mike seine Zweifel an der Nasenspitze an, aber glücklicherweise begannen jetzt
weitere Karatekas sich der Halle zu nähern, so dass wir unser Gespräch beenden
mussten.
Endlich –
nachdem ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte – erblickte ich auch Arik,
der mal wieder wie aus dem Nichts auf halbem Weg zwischen Schulgebäude und
Halle auftauchte. Ich war mir sicher, ihn vorher nicht gesehen zu haben, obwohl
ich doch intensiv Ausschau gehalten hatte. Bei seinem Anblick schlug mein Herz
einen Trommelwirbel, und ich hörte, wie Mike neben mir „Da ist er ja!“
murmelte.
Wie erwartet
verfinsterte sich Ariks Miene, als er Mike neben mir entdeckte. Aber er stockte
nur kurz, dann marschierte er weiter auf uns zu. Ungeachtet seines Unmuts
strahlte ich ihn an. Ich freute mich einfach zu sehr, ihn endlich
wiederzusehen. „Clarissa.“ Es war mehr ein Knurren als eine Begrüßung, aber das
schockte mich nicht. Ich wusste, dass nicht ich damit gemeint war. Mike übersah
er geflissentlich, was der mit einem
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