Hinter der Nacht (German Edition)
vom
Flur hereinfallende Licht aufgehellt wurde. Ich tastete nach einem
Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne flammte auf. Aber obwohl ich jetzt etwas
sehen konnte, war der Eindruck kaum besser als vorher. Das Zimmer war nach wie
vor düster, nicht zuletzt wegen der vielen hohen, gut gefüllten Regale, die
jedoch statt Büchern Unmengen von grauen und schwarzen Aktenordnern enthielten.
Vor dem Fenster, das sich an der gegenüberliegenden Seite befand, hingen dicke,
bodenlange, dunkelbraune Vorhänge, und davor stand ein wuchtiger, mit Papierstapeln
und einem großen Bildschirm völlig zugestellter Schreibtisch. Erst auf den
zweiten Blick entdeckte ich auch das Bett, so schmal wie in einer Mönchszelle.
Das einzige, was den kargen, wenig einladenden Eindruck dieses Zimmers
milderte, war das Bild, das darüber hing.
Es war ein
Gemälde, das ein zartes Mädchengesicht mit heller, fast durchscheinender Haut,
umrahmt von langen goldenen Locken, zeigte, welches mir aus dichtem Nebel
entgegenblickte. Was mich jedoch sofort in seinen Bann schlug, war nicht so
sehr die Tatsache, dass mir dieses Mädchen entfernt bekannt vorkam, auch wenn
ich mir andererseits sicher war, es noch nie getroffen zu haben. Was mich viel
mehr total faszinierte, waren ihre Augen. Sie waren von einem strahlenden
Meerblau, aber aus ihnen sprach eine solche Traurigkeit, dass es mir
augenblicklich das Herz zusammenschnürte.
„Brauchst du
Hilfe?“ Ich zuckte zusammen, als Mikes Stimme so plötzlich hinter mir ertönte.
Ich hatte ihn gar nicht die Treppe hochkommen hören.
„Nein, ich komm
schon klar“, antwortete ich, nachdem ich mich von meinem Schreck erholt hatte.
„Ich habe nur gerade dieses Bild betrachtet.“
Mikes Blick
wurde weich, als er nun ebenfalls sein Gesicht dem Mädchenporträt zuwandte.
„Gefällt es dir?“
Ich zögerte.
„Ja, schon. Aber – sie sieht so traurig aus.“
Mikes Antwort
überraschte mich. „Ich glaube, da hat mein Vater viel von seinen eigenen
Gefühlen reingebracht.“
„Soll das
heißen, dein Vater hat dieses Bild gemalt?“
Mike nickte.
„Wow!“ Ich war
beeindruckt. „Aber – das ist wirklich gut! Er hätte Maler werden sollen, nicht
Schriftsteller!“
„Es war das
letzte, was er jemals gemalt hat“, erwiderte Mike leise. „Danach hat er nie
wieder einen Pinsel angefasst.“
„Warum nicht?“
Ich konnte nicht verstehen, wie jemand so eine Begabung einfach brachliegen
lassen konnte. Wenn ichein solches Talent gehabt hätte, hätten mich
keine zehn Pferde davon abbringen können, es zu nutzen!
„Er sagt, er
kann nicht. Er sagt, seit sie von uns ging, ist er leer.“
Die Erkenntnis
traf mich wie ein Schock. „Dann ist das…?“
„… meine
Mutter.“ Ich konnte den Klang seiner Stimme nicht deuten. Rasch warf ich ihm
einen Seitenblick zu, doch er blickte stur geradeaus.
Ich betrachtete
das Bild mit neuem Interesse. Jetzt wusste ich, warum sie mir vorhin so bekannt
vorgekommen war. Die Ähnlichkeit mit Mike war wirklich unübersehbar. Bis auf
die Augen. Auf einmal überkam mich eine Welle der Trauer. Mikes Mutter sah so
hübsch, so verletzlich – so unglaublich jung aus! Es war nicht fair, dass sie
so früh sterben musste! Niemandsollte so früh sterben müssen. Sie
konnte kaum älter als Mike oder ich gewesen sein. Oder als… Schnell änderte ich
die Richtung meiner Gedanken. Wenn ich jetzt wieder anfing, an ihn zu
denken, würde mich gleich das heulende Elend überkommen. Und das konnte ich nun
wirklich nicht gebrauchen!
Auch Mike schien
genug von dem Thema zu haben. „Also, wenn du keine Hilfe brauchst, dann fahr
ich jetzt einkaufen!“, verkündete er fast schroff.
„Fahr nur! Ich
komm schon klar.“
Nachdem er sich
verabschiedet hatte, zog ich energisch die verstaubten Vorhänge zur Seite und
öffnete das Fenster. Licht und Luft strömten herein, und ich atmete tief durch.
Dann hängte ich die angestaubte Bettdecke und das Kopfkissen zum Lüften über
das Fensterbrett und warf den Staubsauger an, um die Matratze und den Rest des
Zimmers abzusaugen. Nur die Regale und den Schreibtisch ließ ich in Ruhe. Nicht
auszudenken, wenn ich mit dem Sauger irgendwelchen Unterlagen zu nahe käme!
Dieses Risiko wollte ich nun wirklich nicht eingehen.
Als ich endlich
mit meiner Säuberungsaktion zufrieden war, suchte ich aus dem Flurschrank eine
Garnitur Bettwäsche heraus und kehrte seufzend damit in Raphaels Zimmer zurück.
Betten beziehen war noch nie eine meiner Lieblingsübungen
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