Hinter der Nacht (German Edition)
gewesen. Das
Rumgehampel mit den langen Teilen war einfach zu umständlich für jemanden
meiner Körpergröße. Mühsam wuchtete ich die Ecken der Matratze hoch, um das
Spannbettlaken darunter festzuklemmen. Das Kopfkissen war im Gegensatz dazu
einfach - aber dann kam die Bettdecke. Raphael besaß zu allem Überfluss ein
altertümliches, fürchterlich schweres Federbett, das schon bessere Tage gesehen
hatte und dessen Federn extrem aneinander zu hängen schienen. Nachdem es mir
mit viel Mühe dennoch irgendwie gelungen war, dieses Ungetüm in den Bezug zu
zwängen, schüttelte ich es vehement aus in der Hoffnung, die störrischen Federn
halbwegs gleichmäßig zu verteilen – ein hoffnungslos Unterfangen. Der Klumpen verlagerte
sich zwar brav von einer zur anderen Seite, dachte aber gar nicht daran, sich
aufzulösen. Schließlich beschloss ich, ernstere Maßnahmen zu ergreifen. Wenn
ich in Socken auf das Bett kletterte, könnte ich von hier oben mit erhöhter
Kraft und viel Schwung vielleicht doch noch mein Ziel zu erreichen.
Leider hatte
mein Einsatz weitaus mehr als den erwarteten Erfolg, denn ohne Vorwarnung
entschieden sich die Federn plötzlich, ihren Widerstand sang- und klanglos
aufzugeben. Nur dummerweise hatte ich nicht damit gerechnet, dass sich der
Schwerpunkt der Decke dadurch auf unvorhergesehene Weise verlagerte. Auf der
durchgelegenen, weichen Matratze verlor ich das Gleichgewicht und taumelte
rückwärts gegen die Wand. Meine rechte Schulter stieß schmerzhaft mit dem
verschnörkelten Rahmen des dort hängenden Gemäldes zusammen, so dass ich mich
instinktiv gleich wieder nach vorne warf. Es krachte. Ich erstarrte. Dann
drehte ich mich langsam um. Das Porträt von Mikes Mutter hing nicht mehr an
seinem Platz. Offensichtlich hatte ich es bei meiner Aktion unsanft von der
Wand gerissen und es war mit dem von mir gehörten lauten Krachen auf dem Boden
hinter dem Bett gelandet. Nur der obere Rand schaute noch hinter der Matratze
hervor.
Mist!
Hoffentlich war es nicht kaputt gegangen! Mit dem dumpfen Gefühl, dass Mikes
Vater von einer Zerstörung seines Meisterwerks alles andere als begeistert
wäre, griff ich mit bebenden Fingern vorsichtig nach dem Rahmen und zog ihn
dann so behutsam wie möglich nach oben. Auf den ersten Blick sah das Bild
unversehrt aus. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Doch sicherheitshalber drehte
ich es auch noch auf die Rückseite, um nachzusehen, ob sich im Rahmen
irgendwelche Risse gebildet hatten. Puh! Glück gehabt! Alles schien in Ordnung.
Doch dann stutzte ich. Dort, in einer Ecke, halb in den Rahmen geklemmt,
steckte etwas. Ein weißes, zusammengefaltetes Papier, wie ein Notizzettel.
Bevor ich auch nur darüber nachgedacht hatte, streckte ich meine Hand aus und
zog es heraus. Das Bild lehnte ich vorsichtig an die Wand. Dann faltete ich das
Papier auseinander.
Es war ein
Gedicht. Und obwohl mir klar war, dass ich es spätestens an dieser Stelle
wieder hätte zurückstecken müssen, weil es mich ganz eindeutig nicht das
Geringste anging, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen.
Im Nebel
Verloren
Gefunden
Verloren
Gesucht
Nicht gefunden
Erschienen
Geschenkt
Vervierfacht
Halbiert
Verschwunden
Genommen
Gelassen
Geliebt
Geliebt
Geliebt
Claire
Ariel
Michael
Ich runzelte die
Stirn. Ein allzu großer Dichter schien Raphael jedenfalls nicht zu sein – denn
dass er es war, der dieses Werk verfasst hatte, setzte ich schon aufgrund der
Fundstelle voraus. Aber was wollte er damit sagen? Wer waren „Claire“, „Ariel“
und „Michael“? War „Michael“ Mike? Und was sollten all die anderen Worte
bedeuten? „Verloren“ und „Verschwunden“ - ging es da um Mikes Mutter? Das
„Geliebt“ deutete darauf hin. Aber der Rest? „Erschienen“, „Vervierfacht“,
„Halbiert“ und so weiter? Und wieso steckte das Gedicht hinter dem Gemälde von
Mikes Mutter? Hatten diese beiden Werke etwas miteinander zu tun?
Erst, als ich
plötzlich von draußen einen Automotor hörte, der direkt vor dem Fenster
erstarb, wurde mir wieder bewusst, wo ich war und was ich hier tat. Was es für
einen Eindruck bei Mike hinterlassen würde, wenn er plötzlich hier zur Tür
hereinkäme und mich so vorfände, wollte ich mir lieber nicht ausmalen. Rasch
sprang ich auf, kletterte noch einmal auf das Bett und hängte das Bild wieder
an den dafür vorgesehenen Nagel. Dann warf ich die Bettdecke auf die Matratze
und strich sie einigermaßen glatt.
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