Hinter der Nacht (German Edition)
fragen. Vielleicht wusste er ja mehr als sein Sohn
und wäre bereit, sein Wissen mit mir zu teilen. Den Rest der Fahrt brauchte
ich, um mir eine einigermaßen erfolgversprechende Verhörstrategie auszudenken,
aber besonders weit kam ich nicht. Ich würde wohl improvisieren müssen.
Zu Hause
verschwand Raphael erst einmal in seinem Zimmer, und während Mike sich in der
Küche mit der Zubereitung eines zweiten Frühstücks beschäftigte, begab ich mich
mit gemischten Gefühlen ins Wohnzimmer. Was mir Sorgen machte, war nicht nur
das bevorstehende Gespräch, sondern auch die Tatsache, dass ich noch keine
Gelegenheit gefunden hatte, den aus Raphaels Zimmer entwendeten Zettel mit dem
Gedicht zurückzubringen. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu beruhigen,
dass es ziemlich unwahrscheinlich war, dass er überhaupt jemals hinter das Bild
schaute – zumindest würde kein normaler Mensch das tun. Aber leider hatte ich
den starken Verdacht, dass die Bezeichnung „normal“ auf Raphael Low nicht
wirklich zutraf. Ich nahm mir fest vor, das Gedicht sobald wie möglich wieder
an seinen angestammten Platz zurückzubringen – sobald ich mal wieder allein im
Haus sein sollte. Bis dahin müsste ich mich im Falle eines Falles eben dumm
stellen.
Es dauerte nicht
allzu lange, bis ich Schritte auf der Treppe hörte, und dann betraten Vater und
Sohn hintereinander das Wohnzimmer.
„Da ist ja unser
Gast!“, rief Raphael, als er durch die Tür trat. Ich brauchte ein paar
Sekunden, bis ich registrierte, dass er damit mich meinte. Es war ziemlich
seltsam, diese Bezeichnung ausgerechnet aus seinem Mund zu hören, denn mir kam
es genau umgekehrt vor: Ichwohnte schließlich schon seit langem hier,
während er der Neuankömmling war.
Mike schien
etwas von meinen Gedanken in meinem Gesicht lesen zu können, denn er beeilte
sich, seinen Vater zu korrigieren: „Nicht Gast, Dad – Clarissa gehört doch
schon längst zur Familie!“ Ich errötete bei seinen Worten, vor allem, da er
dabei neben mich trat, mir den Arm um die Schultern legte und mich an sich
drückte.
Raphaels Lächeln
wirkte gezwungen. Ich hatte auf einmal das Gefühl, ihm wäre es lieber, mich so
schnell wie möglich wieder los zu sein. „Also, Clarissa, wie gefällt es dir
denn so in Schottland?“, eröffnete er steif das Gespräch, als wir alle um den
Couchtisch herum saßen. Zum ersten Mal fühlte ich mich in diesem Haus wie ein
Eindringling, auch wenn er sich jetzt bemüht gastfreundlich verhielt. „Du
scheinst dich ja schon gut eingelebt zu haben. Bist selbst schon eine halbe
Schottin geworden, was?“
„Wenn sie ihre
Schuluniform anhat, auch eine ganze“, warf Mike augenzwinkernd ein, worauf ich
eine Grimasse zog.
Raphael lachte
gekünstelt.
„Ist schon ganz
okay hier“, entgegnete ich nach kurzem Zögern, „die meisten sind echt in
Ordnung.“
„Clarissa ist
viel zu bescheiden. Sie hat alle Herzen im Sturm erobert und sogar den
einsamsten Wolf unserer Schule gezähmt“, grinste Mike, und obwohl das maßlos
übertrieben war, freute ich mich ausnahmsweise über seine Anspielung.
Geschickter hätte ich das Thema Arik auch nicht ins Spiel bringen können.
Raphael biss
sofort an. „Ach, und wer ist das?“
„Er heißt Arik“,
warf ich ein und beobachtete dabei sein Gesicht.
Aber er zeigte
keine Regung. „Arik? Seltsamer Name. Klingt irgendwie nordisch. Ist er denn
Schotte?“
„Ja.“ Ich ließ
ihn nicht aus den Augen. „Er ist auf North Uist geboren.“
Jetzt blitzte
doch Interesse in seinen Augen auf. „Ah, North Uist“, wiederholte er, plötzlich
mehr Gefühl in der Stimme. Er klang richtig schwärmerisch. „Wo Himmel und Erde
sich begegnen.“
Aus dem
Augenwinkel sah ich, wie Mike die Augen verdrehte. Er murmelte etwas, das wie Oh
nein, bitte nicht! klang, und versuchte, mit einem warnenden Blick meine
Aufmerksamkeit in Richtung Bücherregale zu lenken. Aber leider konnte ich auf
seine Abneigung gegen das Lieblingsthema seines Vaters gerade jetzt keine
Rücksicht nehmen. Im Gegenteil. Ich ignorierte Mikes Blick und fragte
unschuldig: „Waren Sie schon mal da, Mr Low?“
Er verzog das
Gesicht, als hätte er auf einen sauren Apfel gebissen. „Raphael“, verbesserte
er mich. „Und du – wir sind doch jetzt eine Familie .“ Die Ironie
war unüberhörbar, aber dann wurde seine Stimme wieder sanfter. „Ja, ich war
schon dort, auf North Uist.“ So zärtlich, wie er den Namen aussprach, klang er
fast wie der einer Geliebten. „Und
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