Hinter der Nacht (German Edition)
nicht nur einmal.“
„Nein, viele, viele Male“, griff Mike ins Gespräch ein. „Unzählige Male!“ Seine Stimme klang
spöttisch. „Eigentlich müsstest du da mittlerweile jeden Quadratzentimeter
kennen. Ehrlich gesagt, ich habe nie verstanden, was dich immer wieder dort
hinzieht. Da gibt es doch nichts außer Gras und Wasser.“
„Mein lieber
Sohn, ich habe dir schon oft gesagt, dass es viel mehr auf dieser Welt gibt,
als das, was du mit deinen Augen wahrnehmen kannst.“
Er hörte sich an
wie ein Prediger, und Mikes Reaktion kam prompt.
„Ja, ja, ich
weiß, ich weiß. Wir sind umgeben von allen möglichen Wundern, und eines Tages
werde ich sie erkennen – wenn ich meinen ungläubigen Geist und mein Herz
endlich öffne“, leierte er herunter wie jemand, der das Gesagte schon unzählige
Male zuvor gehört hatte.
Doch Raphael
ließ sich nicht provozieren. „So ist es“, nickte er nur ernst.
Ich verstand
Mike immer besser. Es war sicher nicht einfach gewesen, mit einem Vater
aufzuwachsen, der so besessen von seinen abstrusen Ideen war. Und davon, sie
auch seinen Mitmenschen einzureden. Ein Wunder, dass Mike trotzdem so normal
geblieben war.
Raphael sah so
aus, als wolle er in seinen Erinnerungen versinken, und wenn ich noch etwas aus
ihm herauskriegen wollte, musste ich eingreifen. „Er hat übrigens auch nächsten
Donnerstag Geburtstag“, warf ich deshalb im Ton belangloser Konversation ein.
Raphael und Mike
sahen mich beide gleich verständnislos an. „Wer?“
„Arik!“ Ich warf
Mike einen gespielt tadelnden Blick zu. „Weißt du nicht mehr? Ihr seid doch
beide am selben Tag geboren! Am 5. November 1990!“
„Ach ja,
stimmt“, antwortete Mike eher uninteressiert.
Ganz anders
reagierte sein Vater. „Was?“ Seine Stimme klang auf einmal merkwürdig
atemlos. Ein schneller Blick zeigte mir, dass er unter seiner Sonnenbräune
erbleicht war. Hastig fuhr er fort: „Dieser – Arik - und du … Ihr
habt am gleichen Tag Geburtstag? Und er ist wirklich auf North Uist geboren?
Bist du sicher?“
„Ja“, sagte
Mike. Er sah seinen Vater erstaunt an. „Wieso, stimmt was nicht?“
„Nein, nein,
woher denn.“ Die Verneinung passte überhaupt nicht zu seiner Stimme. „Ich war
nur – überrascht, das ist alles. Ist ja schon ein komischer Zufall, dieser
gleiche Geburtstag.“
„Ich weiß
nicht“, widersprach Mike. „Da gibt’s mit Sicherheit in Schottland noch viele
andere, auf die das zutrifft. Und ich bin ja nicht auf North Uist
geboren.“
„N-nein“,
bestätigte Raphael, doch ich merkte, wie er dabei zögerte. Plötzlich war ich
mir sicher, dass er log. Aber - wie konnte das sein? War Mike etwa nicht auf
dem Schiff geboren, vor Skye, wie er erzählt hatte? Ich sollte sobald wie
möglich meine Kenntnisse der schottischen Geographie vertiefen, um
herauszufinden, wie weit dieses Skye von North Uist eigentlich entfernt lag.
„Kennt ihr –
seine Eltern?“
Raphael ließ das
Thema nicht ruhen, und ich gab ihm nur zu gern Auskunft, wobei ich ihn scharf
im Auge behielt. „Er hat keine mehr. Seine Mutter ist gestorben, und seinen
Vater hat er nie kennengelernt.“
„Gestorben?“,
fuhr Raphael auf, immer noch mit dieser merkwürdigen Stimme. Er schien um
Fassung zu ringen. „Bist du - Hast du – Weißt du, wie sie hieß?“
Mike sah seinen
Vater zunehmend verständnislos an. So langsam schien auch ihm aufzufallen, dass
sein Interesse an Arik – und vor allem an dessen Mutter, wie es schien –
eindeutig über das Gewöhnliche hinausging.
Ich jedoch tat
so, als fände ich nichts Auffälliges dabei, und schüttelte den Kopf. „Nein.
Aber…“ – plötzlich fiel mir etwas ein – „…er hat gesagt, dass sie Mike
irgendwie ähnlich sah.“
„Oh Gott.“
Raphael sank kraftlos in seinen Sessel zurück, wobei er aussah, als würde er
gleich ohnmächtig.
Mike sprang auf.
„Dad, ist dir nicht gut?“
Der hob
abwehrend die Hände. „Nur der - Jetlag. Ich bin hundemüde. Ich glaub, ich hau
mich etwas aufs Ohr.“ Mit diesen Worten stemmte er sich wieder hoch und wankte
dann in Richtung Flur davon.
Mike sah ihm
besorgt nach. „Hoffentlich hat er sich nicht irgend so einen komischen
südamerikanischen Virus eingefangen!“
Ich beruhigte
ihn. „Nein, das glaube ich nicht.“ Soweit sagte ich die Wahrheit. Dann jedoch
fügte ich eine faustdicke Lüge hinzu. „Liegt bestimmt nur an der
Zeitverschiebung.“ Dabei war ich mir hundertprozentig sicher, dass Raphaels
plötzliches
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