Hinter der Tür
hat eine unglaublich starke Barriere errichtet, um diese Erinnerung vor der Aufhellung zu schützen. Und offen gesagt – ich glaube, daß sie erst wieder geistig gefestigt sein wird, wenn dieser Schutzwall niedergerissen ist.«
»Soll das heißen, Sie wollen, daß sie sich an dieses ›Ding‹ erinnert?«
»Ja«, sagte Vanner ernst. »Ich glaube, es ist entscheidend für sie zu wissen, was sie damals so erschreckte. Das ›Ding‹ muß isoliert, definiert und bewältigt werden – nicht als Sechsjährige, sondern als Frau von fünfundzwanzig Jahren, die ihre Angst als nebensächlich erkennen kann.«
»Und dann ist sie geheilt?«
»Das ist ein unpassendes Wort.«
»Wenn sie sich nun an das Ding erinnert und immer noch Angst davor hat? Vielleicht wird sie dadurch völlig aus dem Gleis geworfen.«
»Als ich sagte, daß Sie uns vielleicht helfen könnten, Mr. Tyner, meinte ich, daß Gail den Schutzwall für einen Menschen wie Sie vielleicht senkt. Vielleicht enthüllt sie die Wahrheit, ohne es selbst zu wissen.«
»Ich wüßte nicht wie.«
»Das schwarze Loch in ihrem Gedächtnis – stellen Sie es sich als Tier vor, als wildes Tier, das in ihrem Geist Schutz gesucht hat, ein schlaues, blutrünstiges Wesen, das sich nicht so einfach in die Falle locken läßt. Es erkennt den Feind, den es in mir hat; es ahnt, daß es mein Beruf ist, schwarzen Wesen eine Grube zu graben.
Aber in Ihrer Gegenwart ist es vielleicht nicht so wachsam. Begreifen Sie, was ich meine?«
»Hören Sie«, Steve runzelte die Stirn, »ich habe schon genug Ärger mit dem Detektivberuf, ohne mich noch zum Psychiater ausbilden zu lassen.«
»Die Tatsachen liegen ziemlich einfach. Der Traum ereignete sich in der Nacht, als Cressie Gunnerson zur Beerdigung von ihrem Totenbett genommen wurde. Gail war fast außer sich vor Entsetzen; sie weigerte sich sogar, einen letzten Blick auf ihre tote Mutter zu werfen, ein Umstand, der ihr noch heute zu schaffen macht. Als sie zu Bett ging, war die Leiche fortgebracht worden. Mitten in der Nacht hatte sie den Traum. Das einzige, was wir darüber wissen, ist, daß die Schlafzimmertür aufging und etwas unglaublich Schreckliches in den Raum trat.«
Steve schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß, daß Sie hier der Experte sind, Dr. Vanner. Aber ich begreife nicht, wieso das ein so großes Rätsel sein soll. Ist Ihnen in Anbetracht der Umstände nicht klar, wer das ›Ding‹ gewesen ist?«
»Ihnen denn?«
»Natürlich«, sagte Steve. »Ich würde sagen, daß sie ihre Mutter durch die Tür kommen sah. Ihre tote Mutter.«
Vanner lehnte sich so weit zurück, daß die Federn seines Stuhls zu knacken begannen. »Ja«, sagte er leise. »Das hat er auch vermutet.«
»Wer?«
»Ihr Onkel«, erwiderte Vanner. »Ein Mann namens Gilbert Swann, der die Angelegenheiten der Familie ordnete, ehe er nach London zurückkehrte, wo er wohnte. Der Chefpsychiater der Mead-Klinik hat ihm geschrieben, und er sprach in seinem Antwortbrief dieselbe Ansicht aus. Sie kam ihm damals so einfach und klar vor, wie sie Ihnen heute erscheint.«
»Und was meinen Sie?«
»Offen gesagt, ich weiß es einfach nicht«, entgegnete Vanner. Steve sah ihn an und respektierte den Ausdruck ehrlichen Zweifels, ja der Ratlosigkeit in den besorgten grauen Augen über dem gepflegten Bart.
Cecilia Louise hatte einige Pfunde zugenommen, seit Steve sie zum letztenmal gesehen hatte, was durchaus nicht zu ihrem Nachteil war; vermutlich hatte der letzte Posten sie in eine Stadt geführt, wo gut gegessen wurde.
»Paris«, sagte sie. »Ist das nicht herrlich? Ich habe massenweise gegessen, Schatz; ich habe reingehauen wie ein Kutscher.« Ihre Begeisterung färbte wie üblich den englischen Akzent, den sie vor etwa zwölf Jahren nach Amerika und in den Pickering News Service mitgebracht hatte. Doch die Begeisterung galt nicht nur ihren Worten, wie sich unschwer an dem Blick ihrer wedgewoodblauen Augen erkennen ließ, den sie Steve zuwarf.
»Ich wollte dich wirklich schon anrufen«, sagte Steve. »Aber du weißt, wie das ist, wenn man seine Stellung im Unfrieden aufgibt…«
»Unfrieden? Das ist Blödsinn, was du genau weißt. Pickering war ganz niedergeschlagen, als du gekündigt hast, mein Schatz; wegen der Sache mit dem Jeep hat er sich überhaupt nicht aufgeregt. Aber ich habe ja nie die ganze Geschichte erfahren.«
»Sissy, was immer man dir erzählt hat – es stimmt.« Steve lächelte. »Ich habe den Jeep gestohlen. In
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