Hinter verschlossenen Türen
Wenn er auch nicht hoffen durfte, dort etwas zu erfahren, was ihn bei seinen Forschungen leiten könne, so glaubte er doch, daß die Frau, bei welcher Julius Molesworth schon so lange wohnte, einen bessern Einblick in seinen Charakter haben müsse, als ihm bei seiner Voreingenommenheit möglich war. Die gute Frau empfingihn wie einen alten Bekannten und hielt mit ihren Mitteilungen ihm gegenüber durchaus nicht zurück.
Sie war auf eine längere Abwesenheit ihres Mieters gefaßt und wurde in dieser Ansicht hauptsächlich durch den Umstand bestärkt, daß er die Photographie seiner Mutter aus dem Rahmen geschnitten und mitgenommen hatte. Alle seine Rechnungen waren berichtigt, und in der Kommodenschublade fand sich die kleine Summe für die Waschfrau und den Laufburschen. An Kleidungsstücken hatte er nur das Nötigste bei sich, auch seine übrigen Sachen waren zurückgeblieben. Seit er seine Braut auf so schreckliche Weise verloren, war er stets so trübsinnig gewesen, daß die Wirtin das Schlimmste befürchtet hatte; aber das Fehlen des Bildes beruhigte sie wieder.
Kameron lächelte bitter. Natürlich glaubte die gute Frau gleich der übrigen Welt, die Tote könne niemand anderes gewesen sein, als Molesworths Verlobte.
Frau Olney floß von ihres Mieters Lobe über, den sie offenbar schätzte und bewunderte.
Ein so ehrenwerter, tüchtiger Mann, rief sie, nur etwas hart und schroff. Das hat die arme Mildred in den Tod getrieben; sie war so klug und gut, aber sie verlangte nach mehr Liebe und Mitgefühl, als er ihr zu bieten hatte. Daß seine Gleichgültigkeit sie um den Verstand bringen und zum Selbstmord treiben würde, daran habe ich freilich nicht von ferne gedacht. Hätte ich eine Ahnung gehabt –
Kameron war im Augenblick wenig dazu aufgelegt, ihre Klagen über Mildreds Geschick anzuhören, und leitete das Gespräch schnell wieder auf den Mann zurück, der jetzt allein sein Interesse in Anspruch nahm. Sie ging bereitwillig darauf ein und sprach des längeren und breiteren von Molesworths Gewohnheiten und Bekanntschaften, ohne daß Kameron aus ihren Reden für seinen Zweck das Geringstehätte entnehmen können. Auf einmal aber brach sie zu seinem höchsten Erstaunen in die Worte aus:
Und für Sie, Herr Doktor, hatte er eine solche Zuneigung!
Er fuhr auf, als platze eine Bombe zu seinen Füßen. Für mich? fragte er verwundert.
Ja wohl; Sie sind doch sein bester Freund, nicht wahr?
Kameron errötete bis in die Schläfen hinauf; Frau Olney sah ihn bestürzt an.
Ich – ich war der Meinung, stammelte sie, er wäre keinem Menschen so zugetan wie Ihnen. – Ihr Name ist doch Kameron?
Der Doktor verbeugte sich stumm; er brachte kein Wort heraus. Eine Flut von argwöhnischen Gedanken und nagenden Zweifeln stürmten auf ihn ein.
Dann habe ich ganz recht, daß er große Stücke auf Sie hält. Sonst wäre ich auch vorsichtiger gewesen Ihnen gegenüber, denn ich habe Herrn Gryce versprochen – der ist ein sehr kluger Mann und Detektiv –, ich würde des Doktors rätselhafte Abwesenheit gegen niemand erwähnen. Ich habe sie auch ganz geheim gehalten, und bis jetzt hat noch in keiner Zeitung etwas davon gestanden. Aber auf Sie bezieht sich das nicht; ich weiß ja, daß Sie ein Recht haben zu erfahren –
Bitte, erklären Sie sich deutlicher, fiel ihr Kameron ins Wort. Mir ist nichts davon bekannt, daß Doktor Molesworth besondere Wertschätzung für mich hegt. Wenn dies aber der Fall ist –
Freilich; ich will Ihnen auch sagen, woher ich es weiß. Ich schäme mich zwar etwas darüber, aber wir Frauen sind nun einmal neugierig, wenn es auch nicht gerade meine Gewohnheit ist, fremde Briefe zu lesen.
Ihr Besucher erblaßte plötzlich. Er hob die Hand,als wolle er dem Gespräch ein Ende machen, doch besann er sich anders und hörte gespannt zu.
Neulich, fuhr sie fort, wurde nämlich ein Mann vor unserm Hause überfahren, und Doktor Molesworth rasch zu Hilfe gerufen. Er nahm sich nicht einmal Zeit, seine Schreibmappe zuzuklappen und die Tür abzuschließen. Ich hatte gerade in seinem Zimmer etwas zu tun und sah einen angefangenen Brief auf dem Schreibtisch liegen; mir kam es ja nicht in den Sinn, ihn zu lesen, er konnte mich auch gar nicht interessieren, aber mein Blick fiel ganz zufällig auf ein Wort, das meine Neugier reizte – eswar das Wort »Liebe« und so las ich flüchtig ein paar Sätze.
Reden Sie nicht weiter! rief Kameron aufspringend; ich danke Ihnen, aber ich kann diese vertraulichen Mitteilungen
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