Hiobs Brüder
ein unheilbares Gebrechen wie Blindheit oder ein Buckel, nur dass sie sich nicht permanent bemerkbar macht. Es hat nichts mit Dämonen zu tun, so wenig wie Euer Gedächtnisverlust. Ich bin seit zwanzig Jahren Arzt und habe Menschen gesehen und behandelt, die besessen waren. Die Dämonen manifestieren sich auf höchst unterschiedliche Weise, aber zwei Symptome sind immer erkennbar: Die Besessenen sprechen in Sprachen, die sie gar nicht beherrschen. Und wenn der Dämon sie verlässt oder ausgetrieben wird, was nach einigen Stunden, aber ebenso erst nach Jahren sein kann, dann haben sie keinerlei Erinnerung an den Zeitraum ihrer Besessenheit. Habt Ihr je das Gefühl, dass Euch einzelne Stunden oder Tage fehlen?«
»Nein, aber …«
»Haben Eure Gefährten je berichtet, dass Ihr plötzlich in einer fremden Sprache geredet habt?«
»Nein, aber …«
»Dann seid Ihr auch nicht besessen. Glaubt einem alten Mann, der weiß, wovon er spricht, weil es keine Krankheit, keine Verwundung und kein Gebrechen gibt, die er nicht gesehen hat.«
Schweigend sah Losian zu, während Josua einen dünnen Film Salbe auf die Wunde strich und einen neuen Verband anlegte. Seine schmalen Hände waren geschickt und absolut sicher. Es konnte keinen Zweifel geben, Josua ben Isaac war ein guter Arzt. Allein die Tatsache, dass Losian noch lebte, bewies das. Aber war er auch vertrauenswürdig?
Josua legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn behutsam zurück in die Kissen. »Schlaft. Morgen könnt Ihr für ein, zwei Stunden aufstehen, denke ich. Und dann reden wir weiter.«
In den ersten Tagen nachdem er Losian angegriffen hatte, war Regy teilnahmslos und kaum ansprechbar gewesen. Er saß reglos an den Pfeiler im leeren Tuchlager gelehnt und rührte die Speisen nicht an, die sie ihm brachten. Trotzdem gingen die Zwillinge und Simon jetzt immer zu dritt zu ihm, und während Godric und Wulfric das verschmähte Essen, den Wasserkrug und zähneknirschend auch den Eimer austauschten, den sie später zum Abort trugen, hielt Simon Regy die Spitze seines erbeuteten Schwerts an die Kehle und ließ seine Hände niemals auch nur für einen Lidschlag aus den Augen.
Über zehn Tage lang hatte Regy keinen von ihnen eines Blickes, geschweige denn eines Wortes gewürdigt, doch als sie an diesem Morgen ins Tuchlager kamen, war der Teller geleert, und als Simon seine Waffe zückte, bemerkte Regy: »Weißt du, ich könnte dir verzeihen, wenn du mir die Kehle durchschneidest, aber ich würde dir nie vergeben, wenn du es mit so einer miserablen Klinge tätest. Es hat mehr Ähnlichkeit mit einem Fleischermesser als mit einem Schwert, oder?«
»Also genau angemessen für dich, oder?«, konterte Simon.
Regy gluckste. »Touché, mein Augenstern. Ist Losian verblutet?«
»Nein.« Simon bemühte sich um eine verschlossene Miene. Regy sollte auf gar keinen Fall sehen, wie krank Losian gewesen war und wie sie um ihn gebangt hatten.
Abwechselnd hatten sie an seinem Lager gewacht, Tag und Nacht zuerst, als es so schlimm gewesen war. Auch Oswald und Luke hatten darauf bestanden, sich zu beteiligen, doch konnte man ihnen die Sorge um den Kranken nicht allein anvertrauen, was für Simon, King Edmund und die Zwillinge manche Doppelschicht bedeutet hatte. So hatte Simon also viele Stunden Gelegenheit gehabt, zuzuschauen, wie Verwundung und Fieber an Losian zehrten, und sich furchtsam zu fragen, was in aller Welt aus ihm und den anderen werden sollte, wenn sie ihn verlören.
»Und was mag dieses knappe, kühle Nein zu bedeuten haben?«, fragte Regy. »Ist er auf dem Wege der Besserung? Oder röchelt er nur noch ein bisschen zum Abschied?«
»Und warum sollte ich das ausgerechnet dir erzählen?«, stieß Simon wütend hervor.
Regy hob gelassen die Schultern. »Nun, früher oder später finde ich es ohnehin heraus.«
Die Zwillinge stellten Becher und Krug vor ihm ab.
»Danke«, sagte Regy artig, neigte den Kopf zur Seite, sah von einem zum anderen und fragte: »So untypisch niedergeschlagen? Was mag es sein, das euch bedrückt?«
»Ist dir nicht gut, Mann?«, fragte Godric verdrossen. »Fehlt dir irgendwas? Ein Tritt in die Weichteile vielleicht?«
Sein Bruder zog ihn unauffällig zurück. »Lasst uns gehen«, murmelte er, und schweigend verließen die drei jungen Männer das Tuchlager. Simon vergewisserte sich zweimal, dass der Riegel der stabilen Tür bis zum Anschlag vorgeschoben und das Vorhängeschloss eingerastet war.
Sie gingen in den Garten hinaus. Der
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