Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition)
Kall seinen ehemaligen Spielfreund an und versuchte, in Antons Gesicht irgendetwas zu lesen, das auf einen Scherz, eine Posse hindeutete, eine Auflösung des grausamen Spiels. Aber da war nichts in den einst so vertrauten Zügen, nichts außer den Schützengräben über den Wangen, den Bombentrichtern unter den Augen und dem verfilzten Stacheldraht, der überall klirrend herabwallte. Mit der Linken wischte Kall sich taumelnd über die Augen, mit der Rechten legte er die Axt wieder ab. Magdaleen konnte er jetzt sehen, wieder schien ein kalter Windhauch an ihrem Nachtgewand zu zausen, als sie langsam mit dem quengelnden Kind die Stiege hinaufschritt, faustartig überrammte ihn jedes so oftmals ans Kerzenlicht gestülpte Detail ihres Körpers, mit gebleckten Zähnen wollte er ihr nachstürzen, über sie herfallen, tief in sie hineinstoßen und sich dort verbergen, wo das Josefchen so lange verborgen gewesen war, aber jedes ihrer geschrienen und unter Tränen hervorgepressten NEINs stellte sich für immer zwischen sie, und so gab er denn auf. Der verloren geglaubte Sohn würde sie führen, durch die gefrorene Verweigerung von Licht dorthin, wo einst die verständnislosen Augen von Tieren gespiegelt hatten, wie gut sie es gehabt hatten dank des einzigen Mädchens, das er jemals wirklich liebte.
Luit trottete eh nur. Immer. Alle Heimlichkeit sinnloser Lyrik weggeätzt durch Sinn. Sühne. Das wirkliche Leben.
Mutter? Sagt das Vaterunser falsch, immer wieder. »Und vergib uns unsre Schuld.« Unwahrscheinlich.
Vater scheint erleichtert.
Der starke Kall ist ganz allein, und furchtbar schwach, und stumm.
Die hölzerne, von Kall gezimmerte Wiege mit den sorgfältigen Ausschnitzereien an Kopf- und Fußende war mit warmen Decken ausgeschlagen, und dorthinein legte Magdaleen ihr Kind, das ihr jüngster Bruder war. Sie musste eine alte Melodie summen, eine, in deren Text es irgendwie um ein kleines Mädchen ging, das sich zu weit vom Haus entfernt hatte, aber sie hatte den Text nie so richtig gelernt, verließ sich immer nur auf die Musik. Josefchen schlief ein. Etwas kitzelte auf Magdaleens Wange, sie strich es mit Fingerspitzen fort und betrachtete dann ihre Hand. Es war eine Art Wasser, von ganz leicht gelblicher Farbe, dasselbe unstillbare Weinen wie in Antons Augen, nur sehr viel schwächer.
Ihr fröstelte, eine ungewohnte Zugluft huschte im Raum herum und strich Haare über ihre Stirn, so zog sie sich einen Mantel über, denn es würde sicher kalt sein in der Scheune. Der Kämmspiegel mit seinen vielen faustgroßen Sprungherden war nicht mehr als ein oberflächlich geborstener See aus dunklem Eis, und sie konnte sich selbst noch undeutlicher darin erkennen als sonst. Hätte sie sich in diesem Augenblick darauf verlassen müssen, dass sie wirklich sie selbst war, hätte sie wahrscheinlich jemanden um Rat fragen müssen, wen auch immer.
Auf eine nicht richtig erfassbare Weise waren in dieser Nacht all ihre Gebete, Wünsche und Hoffnungen in Erfüllung gegangen, die tausend kleinen Salzschwüre ihrer schmerzdurchwallten Nächte, aber irgendetwas war nicht richtig, war nicht richtig so, wie sie gedacht, gehofft hatte, dass es sein würde. Nicht ein einziges Mal hatte Anton sie bisher berührt. Genau genommen hatte er noch überhaupt niemanden berührt, die anderen nicht zurückgerissen und geschlagen, und sie nicht gestreichelt, in die Arme genommen und jahreszeitenlangsam geküsst.
Sie strich über die Türbalken, als sie ihr Zimmer verließ, beim Hinabgehen auf der Treppe fuhr ihre Hand über das maserige Holz der Geländerstange.
Der Raum unten war leer und still, der Nachhall des Feuers erfüllte noch die Stube, rötliches Glimmen ruckte über die Möbel. Die Axt war fort, mitgenommen. Mit ihrem kleinsten Finger fuhr Magdaleen die Kerbe entlang, die die Axt im alten Familienesstisch hinterlassen hatte. Ihre Fingerkuppe spürte das hellere Holz im Einschnitt, gelbliche Fasern und Bahnen, die älter waren als das speckige Außen, aber jünger und frischer wirkten.
Schwer war die Tür, kalt der Wind dahinter, und dunkel, so dunkel die Welt. Kein Geräusch war zu hören, ihre Füße verschwanden zwischen den Spuren der anderen im Schnee. Magdaleen hatte vergessen, sich Schuhe anzuziehen. Die Kälte war eine erstaunlich intensive Empfindung, und wieder stieß Magdaleen beim Ausatmen ein Weinen mit aus, ein paar heiße Tränen, die zu goldenen Perlen wurden mit jedem weiteren Schritt. Das Haus, Heim, Heimat blieb hinter
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